Auf Deutsch: Ein Verkleideter Gott

by Ian Szydlowski-Alvarez |
February, 2022
ॐ पूर्णमदः पूर्णमिदं पूर्णात्पूर्णमुदच्यते ।
पूर्णस्य पूर्णमादाय पूर्णमेवावशिष्यते ॥
ॐ शान्तिः शान्तिः शान्तिः ॥

oṃ pūrṇam adaḥ pūrṇam idam pūrṇāt pūrṇam udacyate
pūrṇasya pūrṇam ādāya pūrṇam evāvaśiṣyate
oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ

oṃ pūrṇam adaḥ pūrṇam idam pūrṇāt pūrṇam udacyate pūrṇasya pūrṇam ādāya pūrṇam evāvaśiṣyate oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ

Anrufung aus der Isha Upanishad

Fülle hier, Fülle dort. Aus der Fülle entsteht Fülle.
Nimm von der Fülle, nähre die Fülle,
es bleibt immer Fülle.

Der große vedantische Gelehrte Adi Shankaracharya aus dem 8. Jahrhundert sagte, dass dieser Vers – im Gegensatz zu anderen in den Veden – nicht für ein Ritual bestimmt sei, sondern dass sein Zweck darin bestehe, das Licht als die Natur des Selbst oder des Atman zu offenbaren. Isha im Titel dieser Upanishad bedeutet Gott und die Wortwurzel ish steht für herrschen, regieren oder Macht haben, wie auch in dem Wort ishavara oder persönlicher Gott. Dieses Isha ist alles: Es ist pūrṇam, es ist vollkommen und durchdringt die gesamte Schöpfung, so wie Salzwasser die Ozeane oder Hitze eine vom Feuer erwärmte Metallkugel. Das Sanskrit-Wort pūrṇa bedeutet auch Kreis, eine Form, die weder Anfang noch Ende hat und in sich selbst vollständig ist.

Pūrṇam ist Adah oder Das (die Quelle der Schöpfung und unser materielles Universum). Pūrṇam ist Idam ist Dies, ebenso wie unser physischer Körper und unser Bewusstsein. Beide sind Teil von allem, was sich auf unserer Erde bewegt und atmet. Pūrṇam ist die Summe von Dem und Diesem und Es allein repräsentiert diese unermessliche, bekannte Gesamtheit.

Ram Dass, der geliebte Bhakta und Psychologe des Westens sagte einmal: „Behandle jeden, dem du begegnest, als wäre er ein verkleideter Gott“. Das war seine humorvolle Art zu sagen, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie zu sein scheinen, und dass wir bereit sein sollten, das Göttliche und Gute in Anderen zu sehen, auch wenn sie, die Erscheinungsbilder und Situationen nicht so sind, wie wir es von ihnen erwarten würden.

Wenn wir unsere Endlichkeit aufgeben, werden wir unendlich. Als ein Reporter Gandhi ji aufforderte, seine Philosophie in drei Worten zusammenzufassen, sagte er, inspiriert von der Isha Upanishad: „Verzichte und genieße“. Nur wenn wir auf alle weltliche Früchte und die Ergebnisse kurzsichtigen Gewinns oder Vergnügens verzichten, können wir den Atman als lebenden Zustand von pūrṇam wirklich genießen. Wenn wir einem konditionierten, mikroskopischen Zustand entsagen, lädt uns diese Anrufung ein, die Kraft von pūrṇam als Einheit mit allem Existierenden zu erfahren.

Könnten wir über gewöhnliche Erscheinungsbilder hinausblicken, würden wir mit yogischem Blick erkennen, wie Makrokosmos und Mikrokosmos miteinander verschmelzen und wo sich das individuelle Selbst und die universelle Seele berühren. Um diese Art von Vision zu erfahren, rät uns Patanjali, die yogischen Fähigkeiten der Unterscheidung (viveka) und der Vernunft (vichāra) zu praktizieren und zu kultivieren. Ebenso könnten wir uns folgende Frage stellen: Was ist es eigentlich, das unsere Erfahrung und unsere Existenz einschränkt?

Was trennt uns von unserer Verbindung zu pūrṇam? Sehen wir uns selbst anders als jene, denen wir begegnen? Wut, Eifersucht und Angst beruhen auf dem tief verwurzelten, falschen Verständnis der eigentlichen Vollkommenheit. Wenn wir andere schlecht behandeln oder – schlimmer noch – ihnen durch unsere Handlungen direkt oder indirekt Leid und körperlichen Schaden zufügen, ist dies nur eine Folge des Vergessens. Wir können beobachten, wie sich unsere zunehmend zersplitterten Gesellschaften dramatisch und negativ auf unseren gesamten Planeten auswirken.

Auf spiritueller und materieller Ebene stopfen wir unser größeres Selbst in eine falsche und zerbrechliche Schale der falschen Identifikation. Die Praxis soll uns aufrütteln und wachrütteln. Sie sollte nicht als Abgötterei, Theater oder lebhafte Phantasie praktiziert werden. Vielmehr lädt uns der Vers ein, Yoga als eine Wissenschaft der Selbstentdeckung zu praktizieren. Er ermutigt uns, unsere Praxis wie ein Teleskop zu benutzen, damit uns letztlich unsere eigene wahre Natur offenbart wird. Wir müssen nicht unbedingt nach Indien reisen, um sie zu finden, doch wir können damit beginnen, uns mit dem zu transformieren, was in unserer Nähe ist. Sharon schreibt, dass wir – selbst in unserem eigenen täglichen Mikrokosmos, wenn wir uns zum Beispiel zum Essen hinsetzen – einen großen Einfluss auf das Leben Anderer und den Makrokosmos als Ganzes haben können.

Die Praktiken des Yoga sind gleichzeitig ein altes und ein modernes Gegenmittel gegen das große Gift des Vergessens. Dazu gehören ganz einfache Methoden wie das Lenken der Aufmerksamkeit auf den Atem oder eine größere Empfänglichkeit für das Bewusstsein im eigenen Körper und in der Seele. Die Yogapraxis kann uns auch spiegeln, wie bereit wir sind, uns mit pūrṇam zu verbinden. Wie sehr sind wir bereit, die Vollkommenheit als eine liebevolle Haltung zu schützen und zu bewahren? Wir können in der Yoga Asana-Praxis beginnen, uns als Bestandteil der Welt wahrzunehmen, indem wir vermehrt einen Zustand von Harmonie und Gleichgewicht herstellen.

Wenn wir pūrṇam in den Mittelpunkt stellen, können wir sogar erkennen, wie selbst unsere vermeintlichen Schwächen oder Unzulänglichkeiten in immer größere Stärke verwandelt werden können. Was unsere am wenigsten gemochte Asana ist, könnte zu unserer Lieblingsasana werden, wenn wir „unsere Wahrnehmung verschieben“ („shift our perception“) und uns für unsere Praxis entscheiden, und zwar nicht nur im breiteren Sinne, sondern auch in den kleinsten Details und Mustern, die sich durch unser tägliches Leben ziehen. Dies für uns selbst zu tun, kann uns Selbstvertrauen geben und uns helfen, positive Veränderungen vorzunehmen, die unsere Sichtweise und Wahrnehmung erweitern.

Dann gibt es nichts, was nicht pūrṇam ist. Selbst der leere Raum oder śūnya (die Leere) gilt als vollkommen, selbst unser Unglück und unsere Vergesslichkeit können sinnvoll werden und uns zur Befreiung führen, wenn wir sie in das Licht von pūrṇam stellen.

Das Leben ist genug, es ist weder zu klein noch zu groß. Es kann tröstlich sein, zu spüren, dass nichts jemals wirklich zerbrochen oder aus pūrṇam verloren werden kann. Dass wir immer wieder die Chance haben, uns neu zu verbinden, und wie Sharon und David zu sagen pflegen, uns erneut zu erinnern, um allen Wesen als pūrṇam zu dienen. Dies kann uns von der Verschiedenheit zur Einheit führen, mit einer Einladung, Unterschiede und Kreativität zu feiern und ein Fenster zu öffnen, das uns unseren einzigartigen Platz hier und jetzt zeigt.

Teaching Tips

1. Wende David Lifes Lehre an, sich während der Yogapraxis in Tiere zu verwandeln, sich zu transformieren und die Formen verschiedener Wesen oder Bhutas anzunehmen.

2. Lege den Fokus auf Gleichgewichtshaltungen im Sitzen und Stehen, um die Fähigkeit zu reflektieren, gleichmäßig zu atmen, wenn der Körper verschiedene Formen annimmt.

3. Bringe das Bewusstsein auf die 5 Vayus und wie sie in der Praxis dargestellt werden. Konzentriere dich darauf, wie apana oder die sich nach unten bewegende Kraft zur Kraftquelle der pranischen Ausdehnung wird, während sie unsere Ein- und Ausatmen begleitet. Die apanische Aktion zieht uns nach innen, die pranische dehnt uns nach außen aus.

4. Für den Ashram auf Kreta: In Platons Höhlengleichnis erkannten die Menschen nicht, dass das, was sie sahen, nur Schatten und Projektionen waren, die von einem hinter ihnen brennenden Feuer ausgingen. Sie konnten nicht mehr sehen als ihre eigenen Schatten und die Figuren, die hinter ihnen liefen und Schatten an die Wand warfen. Sie glaubten, das sei alles, was es gebe, und blieben an diese sehr begrenzte Existenz gekettet. Erst als ihre Fesseln abgenommen wurden, konnten die Menschen die Quelle des Lichts als das Feuer hinter ihnen erkennen und das Feuer führte sie schließlich ins Sonnenlicht.

5. B.K.S. Iyengar sagte, dass sich eine Asana um ihren schwächsten Punkt drehen sollte. Wenn wir unsere Schwäche ausgleichen, könnten wir von der Stärke überrascht sein, die sich uns offenbart. Dies wiederum kann uns Mut und Energie geben, während wir ein größeres Bewusstsein entwickeln und uns von einem kleinen, eingeengten Seinszustand hin zu einem größeren und expandierenden entwickeln.

5 weitere Teaching Tips von Juan Sierra

1. Ein sehr einfacher und greifbarer Ansatz, um aus der Eingrenzung herauszufinden, ist es, seine Matte im Studio an einem anderen Ort auszurollen. Wenn du von Zuhause aus am Bildschirm übst, richte dich anders aus als üblicherweise.

2. Sei dir beim Üben von stehenden Haltungen des Unterschieds zwischen dem „Halten“ der Asana auf der rechten Seite und der Haltung auf der linken Seite bewusst, indem du die Haltung mit Fülle einnimmst, es nicht lediglich beim Versuch belässt, sondern ganz klar eine Erweiterung des Ausdrucks der Asana wirst.

3. Wirst du mit „endlichen“ Begrenzungen konfrontiert oder steckst in einer Haltung fest, rezitiere still für dich die Worte „Ich werde stärker, ich werde flexibler, ich bin unendlich.“

4. Nutze beim Hineinkommen in eine Asana die Gelegenheit, die Haltung zu verändern, indem du aufmerksam auf das Gewicht des vorderen und hinteren Fußes achtest und wahrnimmst, ob du deine Handgelenke oder Finger unnötig anspannst. Achte darauf, ob deine Handflächen nach unten drücken und nicht ruhen. Wie sehr sind wir bereit, uns mit pūrṇam zu verbinden?

5. Achte in Savasana darauf, dass keine Blöcke, Gurte usw. deine Füße oder Hände berühren, damit du ein klares Gefühl dafür bekommst, die Kraft von pūrṇam als Einssein mit der Existenz zu genießen – ganz leer. Gefüllt mit Leere.

 

Deutsche Übersetzung: Judith Quijano