Unsere Eltern und unsere Yogapraxis
Guru brahma guru viṣṇu guru devo maheśvaraḥ guru sākśāt param brahma tasmai śrī gurave namaḥ
Guru bedeutet Lehrer, oder Erleuchtungsprinzip. Die hinduistische Dreifaltigkeit von Brahma, Vishnu und Shiva symbolisiert den Prozess, dem alles Sein unterliegt: Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung. Brahma ist die Schöpfung und bezieht sich auf unsere Geburtsumstände, unsere Eltern, die Beziehung zwischen unseren Eltern, die Gefühle und Energie, denen sich unsere Mutter während Schwangerschaft und unserer Geburt ausgesetzt hat und auch unsere Kultur und sozio-ökonomischen Umstände. In diesem Mantra werden wir eingeladen, alle diese Aspekte unseres Lebens als Lehren zu sehen.
In der westlichen Gesellschaft gibt es einen immer größeren Trend in Richtung Individualisierung und dem Für-Sich-Selbst-Beanspruchen von Erfolgen. Wir vergessen dabei die Leute, die uns Türen geöffnet haben und sehen alle Opfer, die unsere Eltern für uns auf sich genommen haben als selbstverständlich an. Wie ersetzen Dankbarkeit durch Zuständigkeit und wissen nicht mehr was ein Ökosystem, eine Gemeinschaft oder unsere Familie zusammenhält. Wir leiden alle in unterschiedlichem Grade unter der Krankheit fehlender Verbindung.
Schon vor einiger Zeit begannen wir Respekt mit Bestrafung und Unterdrückung zu verwechseln, anstatt ihn als ein Gefühl wahrer Liebe, Achtung und Wertschätzung zu leben. Wir hörten auf unseren Eltern, Lehrern und Älteren unseren Respekt zu zeigen und lehren es auch unseren Kindern nicht mehr. Wenn ich Schüler*innen vorschlage über ihre Eltern zu reflektieren, wird die Stimmung meistens ruhig, bedrückt und tränenreich. So viele von uns haben ungeklärte Probleme mit unseren Eltern, oder haben sogar aufgehört, überhaupt mit ihnen zu sprechen. Wir leben dann solange mit Schmerz und Verletzung in unserem Inneren weiter, bis es zu spät ist: Ein Elternteil erkrankt schwer oder stirbt. Missverständnisse, ungute Kommunikation oder verletzende Verhaltensmuster bleiben in einer Wolke aus Dunkelheit, Verzweiflung und Reue zurück.
Einige von uns sind schon über 80, unsere Mutter oder unser Vater ist schon über 25 Jahre unter der Erde und immer noch, Tag für Tag lassen wir es uns schlecht gehen, weil wir darüber nachdenken was unsere Mutter oder Vater uns angetan haben. Wir warten immer noch darauf, dass unser bereits verstorbenes Elternteil sich bei uns entschuldigt oder die Situation auflöst, ohne uns bewusst zu sein, dass die einzige Person, die uns von all diesem Leid befreien könnte nur wir selbst sind.
Die Yogapraxis lehrt uns, wie wir diese Beziehung von unserem Ende aus wieder in Einklang bringen können. Die körperliche Anwesenheit der anderen Person ist dafür noch nicht einmal notwendig. Wir üben uns darin, dankbar und hingebungsvoll zu sein, über falschen Stolz hinauszuwachsen und Stärke darin zu sehen, den ersten Schritt in Richtung Wiedergutmachung zu machen. Meistens braucht es dafür kein großes Drama oder eine eindrucksvolle Katharsis, eher nur eine kleine energetische Veränderung. Ähnlich wie beim aktiven nutzen der Spiralenergien in unseren Oberschenkeln, dem Heben unserer inneren Fußgewölbe oder dem nach unten Pressen des Großzehenballens. All das sind sehr kleine, fast unsichtbare Bewegungen, die miteinander verkettet einen großen Effekt auf den ganzen Körper haben und eine gesamte Asana in Balance bringen können. Auf die gleiche Art und Weise kann eine kleine Veränderung im Inneren, z.B. die Absicht eine einzige gute Eigenschaft in jedem unserer Elternteile zu sehen, die gesamte Beziehung verändern. Denk daran: Eine Unstimmigkeit mit unseren Eltern ist die Projektion einer Unstimmigkeit in uns selbst.
Die Beziehungen zu unseren Eltern und Lehrern in Harmonie zu führen ist der Schlüssel für alle anderen Beziehungen. Wir müssen aufhören im Außen nach Fehlern und Verantwortung zu suchen und stattdessen eine Kultur der Dankbarkeit wiederfinden. Wir müssen aufhören, eine Ausnahme daraus zu machen, dass die Lehren des Yoga nur in manchen Situationen gelten sollen. Wir sollten unsere Mitverantwortung in jedem Konflikt sehen und verstehen, dass er aus unseren eigenen Projektionen entspringt.
Auf jegliche Form der Verletzung, Misshandlung oder Abstoßung einzugehen und zu reagieren wird uns nicht zu Freiheit führen. Vergebung ist das einzige, dass unserem Herzen erlauben wird, leicht zu sein. Vergebung heißt nicht unbedingt, jemand anderen zu entschuldigen, sondern eher uns von der Dunkelheit zu befreien, die uns krank macht und uns daran hindert, den nächsten Schritt zu machen. Vergebung ist essentiell für jegliches spirituelles Wachstum. Ein bekanntes Zitat von Martin Luther King Jr. Lautet: .“Ich habe mich für Liebe entschieden, Hass ist eine zu schwere Last.“
Wenn wir jung sind, sehen wir unsere Eltern noch als perfekt und vollkommen an. Wenn wir älter werden, als Teenager, erscheinen uns unsere Eltern alles andere als perfekt. Unsere Erwartung an Perfektion bleibt allerdings bestehen und führt zu einer ständigen Reibung und dem Drang Kritik zu äußern. Könnten wir annehmen, dass unsere Eltern immer ihr bestes gegeben haben, es ihnen aber auf Grund ihrer eigenen Schwierigkeiten und leidvollen Erfahrungen nicht immer möglich war, dies geschickt genug zu zeigen und umzusetzen? Vielleicht, wenn wir selbst heute auch Eltern sind, verstehen wir, dass immer perfekt zu sein eine unmögliche Aufgabe ist. Manchmal vergessen Eltern auch, dass ein Kind nicht gezwungen werden kann, in die Form ihrer unerfüllten Träume gedrückt zu werden. Manchmal ist es einer Mutter nicht möglich, ihre Liebe zu zeigen, weil sie selbst traumatisiert ist – und trotzdem gibt sie ihr Bestes. Wir würden uns vielleicht gerne als vollkommen und anders als unsere Eltern wahrnehmen, aber je älter wir werden, bekommen wir immer mehr mit, wie ähnliche wir ihnen sind: Wir sind eine Fortsetzung unserer Eltern und Vorfahren.
Wenn wir unsere Eltern lieben, sind keine Worte nötig und unsere Liebe ist genug. Wenn unsere Eltern sterben bleibt diese Liebe erhalten und führt sich fort und es gibt nichts zu bereuen. Michael Franti sagte den wunderschönen Satz: „Dein Vater ist nur ein gewöhnlicher Mann, der sich verliebt hat!“
Original im Englischen: Yogeswari (NYC and Switzerland)
Peace Yoga Berlin – Jivamukti Yoga School