Atha yoga – anushasanam
Das jetzt (hier) ist Yoga, so wie ich es in der natürlichen Welt wahrgenommen habe (PYS I.1).
In diesem Sutra lehrt uns Patanjali, dass es für jeden von uns möglich ist, den Zustand von Yoga zu erleben und die Wahrheit zu realisieren, da diese Wahrheit überall um uns herum verfügbar ist. Wenn wir bereit seien, tiefer in die Dinge zu schauen, würden wir das erkennen. Alles ist mehr, als es scheint. Es gibt immer etwas Verborgenes unter der Oberfläche jeder Person oder Sache, um es zu entdecken, muss man nur willens sein, tiefer zu blicken.
Bezeichnenderweise beginnt nicht nur das Sutra mit dem Wort „atha“, sondern das ganze Buch beginnt mit dem Wort „atha“. Atha ist ein höchst verheißungsvolles Wort. Es bedeutet „jetzt“. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit zu der Tatsache, dass gerade jetzt eine Unterweisung von großer Bedeutung gegeben wird. Es war also gerade NICHT „einmal vor langer, langer Zeit“. Und es wird auch nicht irgendwann einmal in der Zukunft sein. Sondern genau jetzt, in diesem Moment! Das ist so ermutigend, weil, wenn jemand das Buch öffnet und das erste Wort liest, Yoga automatisch für diese Person relevant wird. Das Buch ist also über den Leser, es hat direkte Auswirkungen auf sein Leben, welches er gerade in diesem Moment lebt. Durch Atha wird Yoga eine lebende Lehre, nichts Archaisches, was von unseren Ahnen zu einem vergangenem Zeitpunkt in der Geschichte studiert worden ist, sondern eine Einladung dazu, im Hier und Jetzt zu sein („Be Here Now.“).
Das Wort anu, also der erste Teil von anushasanam, bedeutet soviel wie „Atom“, die Sekunde, das kleinste untrennbare Teilchen, das das Ganze ausmacht. Diese relative Welt besteht aus vielen jivas, individualisierten atomischen Geschöpfen. Für einen Yogi aber, für jemanden also, der in den gegenwärtigen Moment des „Jetzt“ treten kann, sind alle diese jivas, all diese Atome miteinander verbunden oder zusammengefädelt („yoked together“) Und zusammen machen sie das Ganze aus. Shasanam kommt von dem Wortstamm shas, was soviel bedeutet wie „zu lehren“. Wenn es mit anu verbunden ist, bedeutet es also, dass die Atome Dich lehren werden. Die essentielle Natur, die in allem Leben enthalten ist, wird also dein Lehrer sein. Die Natur wird Dich unterrichten. Die Weisheit, die Du brauchst, ist somit überall um Dich herum, in allen Formen der Natur enthalten. Jede Begegnung mit dem, was um Dich herum ist, hat also eine profunde Bedeutung, hält eine Lehre bereit, die Dir helfen kann, Dich mit dem Unendlichen zu verbinden, mit dem, wo Du wirklich hingehörst und wo du herkommst. Aber die Natur kann genauso verdecken, wie aufdecken. Das Atom ist die innerste Essenz des Lebens und es wartet darauf, Dich zu lehren, aber nur dann, wenn Du seine Geheimnisse wissen möchtest. Jedes Leben, egal was es für eines ist, das eines Eichenbaumes oder das einer Hummel, hat ein Herz, einen Platz von innen, der aber selten von jemandem erkannt wird, der nur an der Oberfläche schaut. Aber in dem kleinsten aller Samen, ähnlich der Parabel vom winzigen biblischen Senf-Samen, ist die Geschichte der ganzen Welt gespeichert. Also auch die Geschichte von mir und Dir, denn sind wir nicht ein Teil dieser Welt?
Nur wenn wir die Natur genauestens beobachten, werden wir die versteckten universellen Wahrheiten entdecken. Dieses Sutra ist eine Einladung dazu, ein Leben des tiefen Beobachtens zu führen, durchtränkt mit Sensibilität und Gefühl. Und durch diese Erfahrung lernen wir die natürliche Welt als nicht separat von uns existierend erkennen, sondern als unseren inneren Lehrer, der dazu in der Lage ist, für uns weit offene Türen zu unbegrenzten Möglichkeiten im Hier und Jetzt zu schaffen. Es gibt natürliche Gesetze der Geometrie, die Harmonie, Proportion und Schönheit bestimmen und die wir in den Formen des Lebens, ausgedrückt durch Blumen, Muscheln, Bäume, Tieren und sogar durch die himmlischen Körper der Sterne und Planeten, entdecken können. Das Universum lebt und jedes Leben kommuniziert. Wenn ein Spatz mit einem Flügel schlägt in einem Teil der Welt, kann der Windzug einmal um die Welt herum gehört werden. Die meisten von uns haben nur vergessen zuzuhören.
Die Message des Yoga ist es, zuerst hier auf dieser Erde nach intelligentem Leben zu suchen. Hör auf, darüber zu spekulieren, ob oder ob nicht intelligentes Leben auf anderen Planeten existiert. Wir sind noch nicht einmal in der Lage zuzugeben, dass die Natur hier auf dieser Erde intelligent ist: Wir waren so davon eingenommen, sie aufgrund ihrer Ressourcen auszunutzen, dass wir uns nicht einmal die Zeit genommen haben, innezuhalten und zuzuhören, und noch weniger dafür, zu versuchen von ihr zu lernen. Versuch also, so vollständig präsent zu sein, dass Dir nichts unbemerkt entgeht. Warte nicht auf ein anderes Mal oder auf einen anderen Zeitpunkt, die Wahrheit zu entdecken. Sie ist überall da, wo Du nur hinsiehst. Aber nur dann, wenn Du in der Lage bist, tiefer hinzuschauen, wenn Du also mit yogischem Röntgenblick hinschaust. Die meisten Leute beenden ihre Beobachtungen der Natur auf einer oberflächlichen Ebene, bei einem oberflächlichen Nennwert, dort wo die Unterschiede am Größten zu Tage treten. Und so bleiben sie gefangen in Klassifizierungen und darin, Dinge basierend auf diesen äußerlichen Unterschieden in separate Kategorien auseinanderzureißen. Diese Analyse und dieses Auseinanderreißen durch den Intellekt mag vielleicht in einigen Bereichen nützlich und interessant sein, aber Yoga ist eine Praxis der intuitiven Synthese. Du und die Welt um Dich herum sollen wieder vereint werden in dem ständigen bewussten Prozess der Erneuerung.
Suche also überall nach der versteckten Bedeutung, das ist es, was Patanjali denjenigen, die an dem Zustand von Yoga interessiert sind, rät. Yoga ist in dem Sinne also eine esoterische, geheime, okkulte Wissenschaft, weil sie sich einem nämlich nicht auf den ersten Blick offenbart. Die Lehren des Yoga sind verschleiert in Symbolen, Codewörtern und Gedichten und präsentiert als Sutren-Sammlung, welche sich in die einfache Sicht der Dinge weben und aber auch außerhalb der einfachen Sicht der Dinge sich befinden. Man muss ein scharfsinniger Schüler sein, ein Schüler, der diszipliniert und fokussiert ist, der abenteuerlustig ist und der in der Lage ist, sich in die Mysterien des Yoga hineinzuversetzen. Und wenn Du Dich einmal auf den Weg gemacht hast, dann gibt es kein Zurück, denn indem Du den Pfad betreten hast, betrittst Du die Ewigkeit der Gegenwart, das, was sich immer wieder selbst erneuert. Und es ist genau diese Erfahrung, welche Dich letztendlich, aber unvermeidlich verändern wird, von einem normalsterblichen Illusionär zu einem kosmischen Himmelskörper.
–Sharon Gannon
Deutsche Übersetzung © Jivamukti Berlin GmbH (Jasmin Gniosdorz); englische Originalfassung unter https://jivamuktiyoga.com/focus/focus.jsp
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team