“tat twam asi” “That Thou Art, or You are That”
– Chandogza Upanishad
Dich selbst in anderen, in allen anderen, zu sehen, so tief hinein zu sehen, dass das Anderssein verschwindet… wenn das passiert, bleibt nur eins übrig, und das ist die Liebe. Das ist, was Du bist. Mit den Worten der Chandogya Uphanishad: tat twam asi. Das ist Erleuchtung. Ein erleuchtetes Wesen ist eins. Ein was? Eins, das den Schein des Selbsts verloren hat, eins, das sich nicht als getrennt von anderen sieht. Eins, das sich in der Liebe, in dem Einssein verloren hat. Meine Güte – wie kann man dorthin gelangen?
Eine Person sucht entweder aktive Kenntnis des „kleingeschriebenen“ selbst – jivanana – oder Kenntnis des „großgeschriebenen“ Selbst -atmanjnana. Der Sanskritbegriff jiva bezieht sich auf das individuelle selbst, atman bezieht sich auf das ewige, kosmische Selbst, und jnana bedeutet Wissen. Atmanjnana zu suchen heißt zugleich erleuchtete Selbsterkenntnis zu suchen, alle egoistischen Tendenzen zu überkommen. Wir erwachen als der, der wir wirklich sind, jenseits unseres individuellen Körpers, Bewusstseins und Persönlichkeit. Wir lassen die Bedeutung von Ich, mir und mein los.
Aber bevor wir erwachen und das Selbst erkennen können, müssen wir Wissen über das selbst – jivajnana haben. Alles in unserem Leben dreht sich um die Identität. Im ersten Teil unseres Lebens suchen wir nach Identität, und den Rest unseres Lebens verteidigen wir diese, so gut es geht. Wir fühlen uns von gewissen Dingen, Menschen, Situationen, Musik, Büchern, Kleidung, Lebensweisen usw. angezogen, weil diese dem entsprechen, wie wir selbst uns sehen wollen, und wie andere uns sehen sollen. Wie können wir vermeiden, Gefangene unserer eigenen Identitätzu sein, getrennt von der lebhaften Essenz, die uns nährt und alle zusammenhält als große kosmische Einheit?
Yoga lehrt uns, dass wir vor der Realisierung des ewigen Selbst zunächst mit unserem scheinbar individuellen selbst klarkommen müssen, und das bedeutet, dass wir uns in unserer eigenen Haut wohlfühlen müssen, mit der Person, die wir sind, mit unseren Beziehungen zu anderen und unseren Lebenserfahrungen. Niemand kann seiner Bestimmung entkommen. Als Mensch muss man die karmischen Samen, die man in der Vergangenheit gesät hat, anerkennen, und wenn es zu ihrem Wachstum kommt, das Beste tun, um den Reifungsprozess zu durchgehen. Die Bhagavad Gita, eine alte yogische Schrift, handelt von der Notwendigkeit, die eigenen Pflichten zu erfüllen, ähnlich eines Handbuchs, wie man die eigene Bestimmung umgestalten kann, indem man die richtigen Samen säht, die einem bei der Entwicklung helfen und irgendwann einmal vom Rad des Samsara und der Illusion des Egos befreien. In der Gita weist Krishna Arjuna an, seine Pflichten zu erfüllen, aber gleichzeitig an Gott zu denken; auf diese Art klärt man seine Karmas, da selbstsüchtige Motive von selbstloser Handlung überkommen werden. Unsere Seelen werden von falscher Identifikation (avidya) befreit, und der atman kommt zum Vorschein. Die Yogalehren sind ziemlich eindeutig im Hinblick auf die Wichtigkeit, vergangene Handlungen zur Vollendung zu bringen, bevor wir uns von der Welt zurückziehen und das Selbst erkennen. Um eine Handlung aufzulösen, muss sie zu ihrem Ursprung zurückgebracht werden, und Liebe ist die ursprüngliche Natur aller Dinge.
Im Yoga Sutra schlägt Patanjali vor, dass wir uns Gott hingeben, dann sei uns der Erfolg sicher: Ishvara pranidhanad va (PYS 1.23). Wir bitten, zum Werkzeug Gottes gemacht zu werden, während wir unseren „eigenen“ Willen loslassen. Ein göttliches Instrument zu werden heißt, sich mit atman zu identifizieren. Ein jivanmukta – eine Seele, die bereits während ihres körperlichen Daseins zu atman erwacht ist – lebt in der Welt und erscheint vielleicht als eine normale Person – ein getrenntes Individuum – aber tatsächlich lebt sie frei von Trennung, da sie sich nicht mit ihr identifiziert, sondern mit atman. Der Schlüssel, diese Identifizierung zu ändern, liegt im Streben danach, sich mehr auf andere zu beziehen, Mitgefühl zu wecken, welches die Klarheit mit sich bringt, der es bedarf, um durch Anderssein hindurchzusehen. Wenn wir leben, um das Leben anderer zu erheben, indem wir unser Bestes tun, um zu ihrem Glück undihrer Freiheit beizutragen, dann wird irgendwann einmal unvermeidlich eine Veränderung unserer Wahrnehmung anderer und von uns selbst stattfinden. Wir werden alles unter in einem weiter reichenden Licht sehen und vielleicht eine Ahnung davon erhalten, wer wir wirklich sind – tat twam asi – und das ist der Moment, in dem die Magie beginnt. Oder wie Bob Dylan vielleicht raten würde „Wenn du also deinen Nachbarn was schweres tragen siehst, hilf ihm mit seiner Last, und glaub nicht fäschlich, das Heim auf der anderen Straßenseite sei das Paradies.“
– Sharon Gannon
Copyright deutsche Übersetzung: Jivamukti Berlin GmbH
Der Originaltext findet sich unter https://jivamuktiyoga.com/teachings/focus-of-the-month/p/identity
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team