Der Geist ist darin geübt, Trennung und Unterschiede wahrzunehmen, während das Herz genießt und in Gemeinsamkeit und Einheit Trost findet. Alle Menschen haben natürlich zahllose Gemeinsamkeiten, jedoch wird eine davon, genauer gesagt die Tatsache, dass wir alle eine Mutter haben, häufig als selbstverständlich erachtet. Jeder noch so ernste und wichtige Erwachsene hat einen Bauchnabel, der sich irgendwo unter den ernsten Erwachsenenkleidern verbirgt. Dieser Bauchnabel wird ihn immer daran erinnern, dass er irgendwann ein Fötus war, über die Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden. In einer Welt, in der Unabhängigkeit ein solch wichtiger Wert zu sein scheint, vergessen wir schnell, dass wir in der Vergangenheit alle vollkommen auf unsere Mutter angewiesen waren. Ihr Körper hat uns genährt, getragen, warm gehalten und uns Geborgenheit geschenkt, ganz unabhängig davon, wie sich unsere Beziehung zu ihr als Erwachsener weiterentwickelt hat. Das gilt für alle Lebewesen: Jedes Wesen hat eine Mutter und jedes Lebewesen entstammt einem weiblichen Wesen.
Während jedes Lebewesen eine Mutter hat, gibt es auch eine universelle Mutter, die wir alle teilen: Mutter Natur. Sie ernährt uns und sorgt für uns, genauso wie einst unsere individuelle Mutter. Der Muttertag erinnert uns daran, dankbar für unsere Mütter zu sein und ihnen mit Wertschätzung zu begegnen. Es scheint, als gebe es heutzutage einen Tag für alles, zum Beispiel den Welttag der Ozeane, den Weltfrauentag, den Tag der Erde usw. Diese Tage sollen uns daran erinnern, etwas oder jemanden wertzuschätzen, dessen Existenz wir als selbstverständlich erachten. Diese Dinge oder Menschen sind uns so nah, dass wir aufgehört haben, sie wirklich zu sehen. Vielleicht haben wir sogar gänzlich aufgehört, uns um sie zu sorgen oder sie zu schätzen. Leider reicht ein Tag der Erinnerung und der Fürsorge nicht aus. Ein Anruf pro Jahr bei unserer Mutter zu Muttertag genügt nicht, damit sie sich geliebt und umsorgt fühlt. Dasselbe gilt auch für unsere universelle Mutter, Mutter Natur. Wir begegnen ihr nicht mit dem Respekt und der Liebe, die fürsorgliche Mütter verdienen. Von Zeit zu Zeit sehen wir uns vielleicht einen Dokumentarfilm an und schütteln den Kopf darüber, wie die Erde missbraucht und ausgebeutet wird. Vielleicht fassen wir sogar den Vorsatz, weniger Plastik zu verwenden oder weniger tierische Produkte zu konsumieren, aber da es in unserer Natur liegt und da die Wirtschaft und die Kultur es so von uns erwarten, kehren wir nach kurzer Zeit wieder zur „Normalität“ zurück. Die Art und Weise, wie wir im Rahmen unserer „Normalität“ unsere universelle Mutter und unsere weiter gefasste Familie dieser Erde behandeln, ist unausgewogen und nicht nachhaltig.
Die Liebe einer Mutter kann universell gedeutet werden: Jede Mutterkuh säugt, pflegt und liebt ihr Kalb, jede Mäusemutter wird versuchen, ihre Babys vor einer Katze zu verteidigen und jedes Huhn brütet und schützt über eine lange Zeit seine Eier, bis seine Küken schlüpfen. Obwohl jeder Mensch auf der Erde eine Mutter hat und in der Lage sein sollte, einen Bezug zu dieser heiligen Beziehung herzustellen, berauben wir weiterhin Mütter ihrer Babys, um die Milch zu konsumieren, die diese Babys hätte ernähren sollen oder rauben ihre Eier. Der Verzehr von Milch einer anderen Spezies wird in unserer Gesellschaft als „normal“ erachtet. Gleiches gilt für Eier anderer weiblicher Spezies, also potentieller Mütter.
Der Muttertag könnte eine wunderbare Gelegenheit sein, Mutterschaft in all ihren Formen zu betrachten: Wir alle sind Kinder und wir alle haben eine Mutter. Behandeln wir die Mütter dieser Erde respekt- und würdevoll oder beschränkt sich unser Handeln auf Nehmen, Konsumieren und Ernten? Nehmen wir sie lediglich als Ware wahr? Können wir etwas zurückgeben, um unsere universelle Mutter zu ehren und um das Gleichgewicht in dieser Beziehung wiederherzustellen? Können wir das Heilige in den Müttern anderer Spezies und im Planeten selbst sehen? Können wir diese Beziehung schützen, statt sie zu zerstören?
Unsere Mutter schenkte uns das Leben. Nur, indem wir die Erfahrung dieses Geschenks, unseres Lebens, wertschätzen und hochhalten, können unser Leben, unsere Seele oder unser wahres Selbst zum Vorschein kommen oder gar vollkommen werden. Wir können das Leben nur wertschätzen und erfahren, wenn wir Mutter Natur schützen und wenn wir allen anderen Lebewesen ermöglichen, dasselbe zu tun. Zwar schützt und nährt uns unsere göttliche Mutter, aber manchmal braucht auch eine Mutter Fürsorge.
Englisches Original: Martyna Eder
Deutsche Übersetzung: Judith Quijano (Instagram: @quijanolanguages / Twitter: @Ju_Quijano)