Woran denkst du, wenn du dir einen perfekten Raum für deine Yogapraxis vorstellst? Auf welche Elemente könntest du nicht verzichten? Sollte der Boden flach und fest sein? Brauchst du Wände, Fenster, natürliches Licht oder einen Altar? In Vers 1.12 der Hatha Yoga Pradipika (HYP) werden die potentiellen Anforderungen an den Wohn- und Praxisraum eines:r Yogi:ni erörtert. Neben der Größe werden auch die zu vermeidenden Gefahren beschrieben und im Anschluss erklärt Swami Swatmarama, der Verfasser HYP, dass der Ort (ein Königreich) „gut regiert und tugendhaft“ sein sollte.
Gehörte zu deinen Anforderungen an den idealen Yogaraum, dass er sich in einem tugendhaften und gut regierten Land befinden sollte? Hast du darüber nachgedacht, welche Personen die Regierung leiten sollten, bevor du entschieden hast, welche Hilfsmittel du benötigst? Die HYP wurde für Menschen verfasst, die den Rückzug suchten und zu diesem Zweck eine Atmosphäre mit so wenig Ablenkungen wie möglich schufen. Ziel war es, in den unerforschten Tiefen dessen zu wühlen, was die Yogapraxis zu bieten hat. Häufig wird ein Rückzug mit dem Wegbewegen von Problemen dieser Welt und dem alleinigen Fokus aus „spirituelle Dinge“ gleichgesetzt. Yogi Swatmarama empfiehlt, für die eigene Praxis wenn möglich einen Ort auszuwählen, der jene Menschen gut behandelt, die unter seinem Schutz stehen. Bevor du dich in einen tiefen Rückzug begibt, musst du dir deiner sozialen Verantwortung bewusst werden. Bevor du dir „eine Auszeit“ von den Problemen dieser Welt nimmst, solltest dich ihnen stellen. Die zwei in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe sind dharmike (gut/moralisch/ethisch) und surajye (gut regiert).
Die Themen Ethik, Moral und gute Regierungsführung sind vermutlich Gegenstand von Texten, seitdem der Mensch zu schreiben anfing. Davor wiederum waren sie sicherlich beliebte Gesprächsthemen. Was genau als moralisch, ethisch oder gute Regierungsführung gilt, wird in der HYP zwar nicht definiert – doch die ersten beiden Begriffe werden in Patañjalis Yoga Sutra (YS) erforscht. So könnte man sagen, dass der Begriff nirodhah der Fähigkeit entspricht, sich mit den Prinzipien der Moral nach unserem Verständnis in Einklang zu bringen. Das YS fordert uns auf, stetig zu ermitteln, an welcher Stelle und in welcher Weise unsere Gedanken, Worte und Taten diesen Prinzipien entsprechen oder nicht. Wann sind sie schädlich (kliṣṭa), wann nicht (akliṣṭāḥ)?
Das Wort nirodhaḥ wird manchmal mit Kontrolle übersetzt. Gemeint ist die Kontrolle des Geistes, das Halten der Aufmerksamkeit und die Ausrichtung des Bewusstseins, ohne durch rein reaktive Impulse gelenkt zu werden. Das ist keine einfache Aufgabe und Patañjali gibt uns philosophischen und praktischen Rat darüber, wie wir das bewerkstelligen können. Womöglich ist das deutlichste Beispiel ethischer und moralischer Abwägung in den Yamas zu finden. Das Wort yama wird häufig als „Beschränkung“ übersetzt. Wie können wir uns so beschränken, dass wir die Kontrolle über uns selbst nicht verlieren? Wir können versuchen, den Kreislauf des Reagierens zu durchbrechen: Dieser veranlasst uns, Handlungen zu unternehmen, die wir bereuen werden, weil sie anderen oder uns selbst Schaden zufügen. Es bedarf nur weniger Momente der Unachtsamkeit, um jahrelange Bemühungen zunichte zu machen. Ein paar Worte der Wut oder Eifersucht in einem Augenblick, in dem wir die Kontrolle verloren haben, können nicht nur jenen schaden, die uns wichtig sind, sondern auch uns selbst.
Wenn wir in Meditation sitzen oder in śavāsana oder im Bett liegen, können uns die Momente heimsuchen, in denen wir nicht unseren ethischen und moralischen Vorstellungen entsprechend gehandelt haben. Diese Erinnerungen halten uns wach, ziehen uns aus der Meditation heraus oder verzögern den Entspannungsprozess. Beim Erkunden unseres Geistes und seiner Funktionsweise finden wir Wege, Verantwortung für die Welt zu übernehmen, die wir sehen und erfahren. Patañjali zufolge führt uns Yoga zu vollkommener Souveränität. Wir wünschen uns eine Art von Freiheit, die nur mit einem reinen Gewissen einhergehen kann, das ungestört von Gedanken, Worten und Taten ist, die in Disharmonie mit der Moral stehen.
Also beginnen wir mit der Selbstreflexion, doch die HYP empfiehlt, dass die Sorge um moralische und ethische Harmonie auch unsere Gemeinschaften einschließen sollte. Folgen wir der Logik der 5 Yamas aus dem YS, erkennen wir nicht nur unsere persönliche Verantwortung, sondern auch die daraus resultierende gesellschaftliche Verantwortung. Haben wir uns beispielsweise der Praxis von Ahimsa verschrieben, müssen wir uns den Konsequenzen unserer Handlungen stellen. Dann erkennen wir, wie wir uns entweder durch Teilnahme oder „Nicht-Handeln“ mitschuldig am Schaden in unseren Gemeinschaften machen. Die meisten von uns können nicht einfach umziehen, wenn wir feststellen, dass unsere lokale oder nationale Regierung unethisch oder unmoralisch handelt oder schlicht und ergreifend schlechte Arbeit leistet. Was wir jedoch tun können, ist uns mehr in unsere Gemeinschaften einzubringen und tätig zu werden. Ebenso wie wir erforschen, wie unser Geist und unser Körper funktionieren, können wir lernen zu verstehen, wie unsere Gesetze oder Gemeinschaften funktionieren.
Zwar können wir in unserer ersten āsana-Klasse unsere Zehen nicht berühren und wir sollten nicht erwarten, die Welt über Nacht zu ändern. Nichts zu tun ist jedoch auch keine Option. Patañjali definiert eine Praxis (1.14) als etwas, das über einen langen Zeitraum und ohne Unterbrechung stattfindet. Wir treten auf unsere Matte oder setzen uns auf unser Meditationskissen und geben uns Mühe. In der gleichen Weise sind wird dazu aufgerufen, im Laufe der Zeit beständig für alle Bewohner:innen der Erde einzustehen. Es bedarf keiner großen Aktion, sondern lediglich des Engagements, entsprechend den Prinzipien einer moralischen, ethischen und gut regierten Welt zu leben. Wir warten nicht auf den Geist, den wir uns wünschen. Wir warten nicht auf die Welt, die wir uns wünschen. Wir handeln so, dass dieser Geist und diese Welt herbeigeführt werden.