Satya – Führe mich vom Unwirklichen zum Wirklichen – (German)

by Olga Oskorbina |
April, 2023
Satya-pratiṣṭḥāyām kriyā-phalāśhrayatvam  


Wenn der Geist fest in der Wahrheit verankert ist, beginnen ausgeführte Handlungen sofort, Früchte zu tragen.

Um unbeirrt (vivekakhyāteḥ) zwischen dem Betrachter und dem Objekt des:der Betrachters:in oder Puruṣa und Prakṛti unterscheiden zu können, ist es laut Patañjali unerlässlich, den Geist zu reinigen. Durch das Üben der acht Glieder des Yoga werden die Unreinheiten des Geistes (kleśāḥ) überwunden.
Satya oder Wahrhaftigkeit wird von Vyāsa als Sprache und Geist definiert, die mit der Realität übereinstimmen. Satya fällt unter das erste Element des achtgliedrigen Pfades, das Yamas (yamāḥ) oder „Einschränkungen“ genannt wird: Hierbei geht es darum, das zu unterlassen, was man aus moralischer und spiritueller Sicht nicht tun sollte.
Was passiert, wenn wir absichtlich die Unwahrheit sagen? Wir versuchen, Andere zu manipulieren, sodass die Realität vor ihnen verborgen oder verzerrt wird und wir daraus einen persönlichen Vorteil ziehen. Wir bringen Andere dazu, eine andere Geschichte zu glauben – eine Geschichte, die unseren eigenen Zielen zuträglich ist. Dabei vergessen wir oft, wie eine kleine Lüge das über Jahre aufgebaute Vertrauen in einer Beziehung zerstören kann. Ein:e Yogin:i strebt danach, zu wissen, was wahr ist und möchte die ultimative Wahrheit kennen, mit der ultimative Freiheit einhergeht. Der Wunsch danach, zu wissen, was wahr ist, ist so groß, dass die Wahrheit vollkommen respektiert und geliebt wird und deshalb ist die Manipulation der Wahrheit zum persönlichen Vorteil das Gegenteil dessen, was er/sie anstrebt.

Wahrhaftigkeit wird, genau wie andere, darauffolgende Yamas, von Yogin:is praktiziert, um das Nicht-Verletzen (ahiṁsā) makellos zu machen und zu verfeinern. Daher sollte das eigene Sprechen zum Wohle aller Wesen erfolgen. Wie Vyāsa erklärt, entspräche das Sprechen, das anderen schadet, nicht der Wahrheit und eine Simulation von Tugend würde nur zu Dunkelheit führen. Ein Beispiel: Auf die Frage von Räubern, die nach der Richtung fragten, in die die Karawane der Reichen gezogen war, wies ihnen ein Asket, dessen Entbehrungen auf Wahrheit ausgerichtet waren, die richtige Richtung. Dies würde Patañjali zufolge aufgrund seiner schädlichen Wirkung nicht als Wahrheit gelten. Wenn du darüber zweifelst, was du sagen sollst, frage dich selbst: Ist es wahr? Ist es freundlich? Ist es notwendig? In Meditationsretreats wird häufig edles Schweigen praktiziert. Ein Grund dafür ist, das Gebot oder Gelübde von Saya nicht zu brechen. Diesem hat der:die Praktizierende zu Beginn des Kurses zugestimmt. Wenn wir sprechen, ist es leicht, Dinge zu übertreiben oder etwas hinzuzufügen, um die Geschichte bunter zu machen. Wir alle haben das schon getan, aber wenn man fest in der Wahrheit verankert sein will, ist selbst die Übertreibung eine Verzerrung der Realität.

Patañjali sagt im Sutra II.36, dass die Handlungen einer Person, die fest in der Wahrheit verankert ist, unmittelbare Ergebnisse haben oder erfolgreich sind. Eine solche Person sieht die Dinge so, wie sie wirklich sind, sie hat ein vollständiges Verständnis der Realität und deshalb sind ihre Handlungen realistischer. Ein solcher Mensch ist vertrauenswürdig und zuverlässig.
Nun stellt sich die Frage: Wie kann ich sicher sein, dass das, was ich sage, wahr ist? Vyāsa erklärt, dass unsere Worte mit den drei Quellen gültigen Wissens übereinstimmen sollten, die in Y.S.I.7 aufgeführt sind: direkte Wahrnehmung (durch unsere Sinnesorgane), Schlussfolgerung (Anwendung der Logik) und wörtliche Aussage einer kompetenten Person oder Schrift. Daher liegt es in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Informationen geprüft und für wahr befunden werden. In unserer modernen Welt, in der die meisten Informationen, die wir erhalten, weder aus direkter Wahrnehmung, noch aus Schlussfolgerungen oder aus kompetenten Quellen stammen, sondern vielmehr aus sozialen Medien und Nachrichtenkanälen, sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der unsere Überzeugungen und Meinungen auf der Grundlage des Vertrauens in diese Quellen gebildet und geteilt werden. Von diesen Quellen sind viele widersprüchlich und von einer bestimmten Ideologie beeinflusst oder zielen darauf ab, das Verhalten der Massen in einer bestimmten Weise zu manipulieren, damit folglich einige Menschen bereichert oder begünstigt werden und andere nicht. Das Bild einer grasenden Kuh auf einer grünen Wiese auf einer Milchflasche verleitet uns zu der Annahme, dass Milchkühe tatsächlich so leben. In unserer heutigen Zeit ist es schwierig geworden, zu unterscheiden, was wahr ist und was nicht. Der yogische Geist ist der Geist eines:r Forschers:in, der:die den Status quo in Frage stellt und Knoten kultureller Meme und falscher Überzeugungen auflöst.

Die Wahrheit ist objektiv und für jeden Menschen gleich. Sie existiert. Der Glaube ist per se subjektiv, er wird gebildet und kann sich ändern. Wenn man das weiß, ist es im Umgang mit unterschiedlichen Überzeugungen am besten, tolerant zu sein. Unser eigener Glaube oder der einer anderen Person beruht womöglich nicht auf der Wahrheit. Ein mitfühlender und freundlicher Dialog mit dem Ziel einer tieferen Erforschung des Themas kann somit die beste Vorgehensweise sein. Es kann einen Menschen demütig machen, wenn er sich vor Augen hält, dass jede relative Wahrheit nur eine Teilwahrheit ist. Ramana Maharshi hat gesagt: „Die Welt ist illusorisch, nur Brahman ist real. Die Welt ist Brahman“. Außerdem beschrieb er die Stille als die wordgewandtste aller Reden. Konzepte wie Zeit und Raum sind nur relativ wahr und gelten als Werkzeuge von māyā, der Illusion. Nisargadatta Maharaj erläutert es so: „Jede Trennung, jede Art von Entfremdung ist falsch. Dein Dasein als Person beruht auf der Illusion von Raum und Zeit. Der Geist erschafft Zeit und Raum und hält seine eigene Schöpfung für die Realität“. Was ist wirklich? Das ist die Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. Das ist unsere Aufgabe.

Teaching Tips

  1. Schlage den Schüler:innen vor, einen Tag oder ein paar Stunden pro Woche/Tag zu schweigen. Es kann eine Offenbarung sein, wie viel Energie wir auf das Reden verwenden und wie viel von dem, was wir sagen, nicht notwendig ist. Es kann auch dazu führen, dass wir uns in der Stille wohlfühlen und sie zu schätzen wissen. In der Stille sind wir uns der Natur unserer Gedanken stärker bewusst.
  2. Lies yogische Schriften und die Worte von Weisen und Heiligen. Berufe dich in deiner Rede auf sie, um die Wahrheit zu übermitteln.
  3. Verbringe längere Zeit damit, Mantra, Sutras und Verse aus yogischen Texten zu chanten. Stelle eine Wort-für-Wort-Übersetzung und ihre Interpretation vor, falls es diese gibt. Sei dir des Unterschieds zwischen Übersetzung und Interpretation bewusst und vermittele ihn den Schüler:innen. Schüler:innen setzen viel Vertrauen in ihre Lehrenden. Übernimm für das, was du sagst, Verantwortung.
  4. In Abendkursen kannst du die Teilnehmenden einladen, über ihre Interaktionen mit Anderen während des Tages und darüber nachzudenken, ob ihre Rede wahrhaftig, nicht verletzend und rein war. Lade sie ein, die Gründe zu erforschen, warum sie nicht wahrhaftig gehandelt haben. Das kann in eine tiefere Selbstbeobachtung und ein tieferes Verständnis führen.
  5. Unterrichte sālamba sarvāṅgāsana, halāsana, matsyāsana und andere Asanas, die mit dem viśuddha chakra bzw. dem Energiezentrum zusammenhängen, das mit unserer Sprache verbunden ist. Zeige den Schüler:innen, wie sie Decken für Schulterstand und halāsana verwenden können, damit sie die Asanas bequemer halten können.
  6. Sprich mit den Schüler:innen über die versteckte Wahrheit hinter Werbung und Informationen aus sozialen Medien. Stelle sicher, vorab gründlich recherchiert zu haben.
  7. Gehe mit gutem Beispiel voran. Sei achtsam und vermeide jegliches Klatschen, Jammern, Übertreibungen und unnötigen Smalltalk. Studiere die Wahrheit, lebe die Wahrheit, vermittle die Wahrheit, sei die Wahrheit.