Brahmacharya und Veganismus – (German)

by Sharon Gannon |
June, 2023
brahmacarya-pratiṣṭḥāyām vīrya-lābhaḥ

Wenn der:die Yogin:i in brahmacarya verankert ist, wird er:sie Enthaltsamkeit, spirituelle Stärke und Kraft erlangen.]

PYS 2.38

Patanjali gibt uns im Yoga Sutra fünf Empfehlungen darüber, wie wir Andere behandeln sollten, wenn wir Befreiung erlangen wollen. Diese heißen yamas. Das vierte yama ist brahmacharya, was bedeutet, die schöpferische Kraft von Sex zu respektieren und sie nicht durch sexuelle Manipulation Anderer zu missbrauchen. Brahmacharya ist ein Weg, um zu Gott, zur schöpferischen Essenz des Universums zu gelangen. Der Begriff wurde bereits mit Enthaltsamkeit oder Keuschheit übersetzt, was zu vielen Missverständnissen darüber geführt hat, wie dieses yama zu praktizieren ist. Brahmacharya zu praktizieren bedeutet, das Potenzial der sexuellen Energie zu verstehen, die die Essenz aller physischen und psychischen Kräfte ist.

Wenn sexuelle Energie weise gelenkt wird, wird sie zu einem Mittel, um Trennung oder Anderssein zu überwinden. Wenn sexuelle Energie jedoch dazu benutzt wird, ein anderes Wesen auszubeuten, zu manipulieren oder zu demütigen, treibt sie uns in eine tiefere Trennung und Unwissenheit (avidya). Menschen tun dies fortlaufend mit anderen Spezies, die sie in Höfen einsperren. Der sexuelle Missbrauch von Tieren ist tief in unserer Kultur verwurzelt und äußert sich in der Praxis der Zucht, der genetischen Manipulation, der Kastration, der künstlichen Befruchtung und der erzwungenen Trächtigkeit weiblicher Tiere und dem Missbrauch ihrer Kinder. All das fällt unter die Kategorie der Tierhaltung und wird in der Agrarindustrie als völlig normal und routinemäßig angesehen.

Tiere in Massentierhaltungen dürfen keine normalen sexuellen Beziehungen zu Artgenossen aufbauen. Die meisten eingesperrten Tiere sehen in ihrem ganzen Leben nicht einmal ein Mitglied des anderen Geschlechts ihrer eigenen Art. Alle Tiere, die in Massentierhaltungen geboren werden, stammen von Müttern, die sexuell missbraucht und von Menschenhand künstlich befruchtet wurden. Vergewaltigung ist in heutigen landwirtschaftlichen Betrieben gang und gäbe. Diese Mütter werden gezwungen, wiederholt schwanger zu werden, bis ihre Fruchtbarkeit nachlässt, woraufhin sie geschlachtet und gegessen werden. Männliche Tiere, die als Samenspender ausgewählt werden, werden wiederholt sexuell missbraucht, leben in ständiger Frustration und werden am Ende ebenfalls geschlachtet. Solche Praktiken sind brutal, krass und erniedrigend für die Tiere und entmenschlichend für die Landarbeiter, die für diese Arbeit bezahlt werden. Die Art und Weise, wie diese Tiere routinemäßig sexuell missbraucht werden, zeigt, wie weit wir uns von der natürlichen Welt, der Schönheit und dem Wunder des Lebens entfernt haben.

Tierrechte können als ein feministisches Thema angesehen werden, denn wenn wir an die Rechte von Frauen glauben, können wir nicht dulden und unterstützen, wie weibliche Tiere von der Agrarindustrie für ihre Milch, Eier und Babys ausgebeutet werden. Wenn wir der Meinung sind, dass Frauen fair behandelt werden sollten, dann müssen wir unseren Wunsch nach Befreiung für Frauen auf alle weiblichen Wesen ausweiten – unabhängig von ihrer Art, Religion oder Spezies. Yoga lehrt uns, dass wir das, was wir Anderen antun, letztlich auch uns selbst antun. Wenn wir die Rechte der weiblichen Wesen anderer Spezies nicht respektieren, wie können wir dann erwarten, dass wir weibliche Menschen erfolgreich befreien?

Vielleicht können die meisten von uns sich leicht mit dem Gedanken anfreunden, dass der sexuelle Missbrauch Anderer unsere eigene Gesundheit und unsere Fähigkeit, ein befriedigendes Sexualleben zu genießen, beeinträchtigen kann – doch wie viele von uns gehen weiter und weiten diese Überlegung auf andere Tiere aus? Veganer:in zu sein bedeutet, zu einer gesünderen, glücklicheren und kreativeren Welt für alle Lebewesen beizutragen. Manch eine:r mag Tierrechtsaktivist:innen kritisch gegenüberstehen und fragen: „Wie können wir uns so sehr auf die Misshandlung von Tieren konzentrieren, wenn es doch so viel menschliches Leid in der Welt gibt?“. Ich antworte auf eine solche Frage oft mit dem Hinweis, dass ich versuche, die Ursache des Leids an der Wurzel zu packen. Was wir Anderen antun, tun wir letztlich, aber unweigerlich, auch uns selbst an. Vor diesem Hintergrund gibt es viele Zusammenhänge zwischen der Zunahme von Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Scheidungen und Krankheiten unter Menschen und den Vergewaltigungen, dem Kindesmissbrauch, den Familientrennungen und den grassierenden Krankheiten unter den Milliarden von Tieren, die heute in der Welt zur Ernährung der Menschen gezüchtet werden. Wir können nicht darauf hoffen, dass wir auf Kosten des Glücks Anderer glücklich werden.

Der Verzehr von Fleisch und Milchprodukten ist ein Symptom für die Krankheit eines geringen Selbstwertgefühls. Beide Aktivitäten resultieren aus der fehlgeleiteten Vorstellung, dass wir andere Tiere beherrschen, missbrauchen, ausbeuten und essen müssen, um uns attraktiver, jünger, gesünder oder stärker zu fühlen. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Langfristiger Verzehr von Fleisch und Milchprodukten kann zu einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen führen, darunter Herzkrankheiten, Impotenz, Schlaganfälle und Krebs. Patanjali sagt uns deutlich, dass Gesundheit und Vitalität demjenigen zuteil werden, der in brahmacharya verankert ist – also demjenigen, der Sexualität mit Ehrfurcht begegnet.
Die Praxis von brahmacharya bedeutet, die Grundlagen unserer Kultur in Frage zu stellen, die auf der Domestizierung von Tieren beruht. Wenn wir über Veganismus und brahmacharya sprechen, sprechen wir eindeutig über eine radikale sexuelle Revolution.

Essay taken from Sharon Gannon’s Book Eternity is Happening Now

 

Teaching Tips

by Clare Nicholls

  • • Führe die Schüler:innen über das Swadhistahana-Chakra in das Thema ein und arbeite mit Asana-Sequenzen, die sich auf Vorwärtsbeugung und Hüftöffnung konzentrieren. Sprich über Heilung durch das Loslassen von Angst, insbesondere unsere Angst vor Ablehnung. Wir lernen, uns als ganze, vollständige, heilige Wesen zu sehen und uns nicht über unsere sexuellen oder romantischen Beziehungen zu definieren.
  • Weite dieses Denken auf alle Wesen aus. Wenn wir heilige Wesen sind, dann sind alle Lebewesen heilige Wesen. Zitiere aus der Bhagavad Gita, Kapitel 12, Vers 13, und der Katha Upanishad: 2.2.9.
  • Arbeite mit dem Manipura Chakra, indem du Drehungen und Praktiken anwendest, die das Feuer der Verdauung anregen, um Vergebung für die Wesen zu erbitten, die wir in unserem Leben durch unsere Unwissenheit über unsere wahre Natur verletzt haben.
  • Verwende eine einfache Mantra-Praxis: Atme ein und sage still zu dir: „Bitte vergib mir für meinen Egoismus und den Schmerz, den ich dir verursacht habe …“, und sage beim Ausatmen still zu dir: „… weil ich unwissend darüber war, wer ich wirklich bin und wer du wirklich bist.“ (entnommen aus dem Fokus des Monats von Sharon Gannon von November 2011).
  • Mache dich mit der Tierhaltung in deinem Land vertraut, lade vielleicht Tierschützer:innen ein, um über die drängendsten Probleme in deiner Nähe zu sprechen. Finde und unterstütze Initiativen, die sich in deiner Region für Tierrechte einsetzen.
  • Lade die Schüler:innen ein, ihre eigenen Einstellungen und Absichten in Bezug auf Geschlecht und Feminismus zu überprüfen.
  • Lies einen Teil des Werks der feministischen Autorin Mary Wollstonecraft “A Vindication of the Rights of Woman: with Strictures on Political and Moral Subjects” (1792).
  • Besprich das Werk von Susan Bordo „The Flight to Objectivity: Essays on Cartesianism and Culture“ (1987). Darin beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen der kapitalistischen und konsumorientierten Gesellschaften auf unsere Einstellung zu unserem physischen Körper.
  • Untersuche, wie die binäre Unterscheidung in den gängigen Begriffen wie männlich, weiblich, Geist, Körper, Seele, Materie ein Hindernis für die Verwirklichung der Einheit sein kann. Betone, wie die Asana-Praxis unsere fragmentierte Wahrnehmung von uns selbst wieder vereinen kann, indem wir mit Atem, Körper und Intention (strenges Vinyasa) arbeiten.