Patanjali gibt uns im Yoga Sutra fünf Empfehlungen darüber, wie wir Andere behandeln sollten, wenn wir Befreiung erlangen wollen. Diese heißen yamas. Das vierte yama ist brahmacharya, was bedeutet, die schöpferische Kraft von Sex zu respektieren und sie nicht durch sexuelle Manipulation Anderer zu missbrauchen. Brahmacharya ist ein Weg, um zu Gott, zur schöpferischen Essenz des Universums zu gelangen. Der Begriff wurde bereits mit Enthaltsamkeit oder Keuschheit übersetzt, was zu vielen Missverständnissen darüber geführt hat, wie dieses yama zu praktizieren ist. Brahmacharya zu praktizieren bedeutet, das Potenzial der sexuellen Energie zu verstehen, die die Essenz aller physischen und psychischen Kräfte ist.
Wenn sexuelle Energie weise gelenkt wird, wird sie zu einem Mittel, um Trennung oder Anderssein zu überwinden. Wenn sexuelle Energie jedoch dazu benutzt wird, ein anderes Wesen auszubeuten, zu manipulieren oder zu demütigen, treibt sie uns in eine tiefere Trennung und Unwissenheit (avidya). Menschen tun dies fortlaufend mit anderen Spezies, die sie in Höfen einsperren. Der sexuelle Missbrauch von Tieren ist tief in unserer Kultur verwurzelt und äußert sich in der Praxis der Zucht, der genetischen Manipulation, der Kastration, der künstlichen Befruchtung und der erzwungenen Trächtigkeit weiblicher Tiere und dem Missbrauch ihrer Kinder. All das fällt unter die Kategorie der Tierhaltung und wird in der Agrarindustrie als völlig normal und routinemäßig angesehen.
Tiere in Massentierhaltungen dürfen keine normalen sexuellen Beziehungen zu Artgenossen aufbauen. Die meisten eingesperrten Tiere sehen in ihrem ganzen Leben nicht einmal ein Mitglied des anderen Geschlechts ihrer eigenen Art. Alle Tiere, die in Massentierhaltungen geboren werden, stammen von Müttern, die sexuell missbraucht und von Menschenhand künstlich befruchtet wurden. Vergewaltigung ist in heutigen landwirtschaftlichen Betrieben gang und gäbe. Diese Mütter werden gezwungen, wiederholt schwanger zu werden, bis ihre Fruchtbarkeit nachlässt, woraufhin sie geschlachtet und gegessen werden. Männliche Tiere, die als Samenspender ausgewählt werden, werden wiederholt sexuell missbraucht, leben in ständiger Frustration und werden am Ende ebenfalls geschlachtet. Solche Praktiken sind brutal, krass und erniedrigend für die Tiere und entmenschlichend für die Landarbeiter, die für diese Arbeit bezahlt werden. Die Art und Weise, wie diese Tiere routinemäßig sexuell missbraucht werden, zeigt, wie weit wir uns von der natürlichen Welt, der Schönheit und dem Wunder des Lebens entfernt haben.
Tierrechte können als ein feministisches Thema angesehen werden, denn wenn wir an die Rechte von Frauen glauben, können wir nicht dulden und unterstützen, wie weibliche Tiere von der Agrarindustrie für ihre Milch, Eier und Babys ausgebeutet werden. Wenn wir der Meinung sind, dass Frauen fair behandelt werden sollten, dann müssen wir unseren Wunsch nach Befreiung für Frauen auf alle weiblichen Wesen ausweiten – unabhängig von ihrer Art, Religion oder Spezies. Yoga lehrt uns, dass wir das, was wir Anderen antun, letztlich auch uns selbst antun. Wenn wir die Rechte der weiblichen Wesen anderer Spezies nicht respektieren, wie können wir dann erwarten, dass wir weibliche Menschen erfolgreich befreien?
Vielleicht können die meisten von uns sich leicht mit dem Gedanken anfreunden, dass der sexuelle Missbrauch Anderer unsere eigene Gesundheit und unsere Fähigkeit, ein befriedigendes Sexualleben zu genießen, beeinträchtigen kann – doch wie viele von uns gehen weiter und weiten diese Überlegung auf andere Tiere aus? Veganer:in zu sein bedeutet, zu einer gesünderen, glücklicheren und kreativeren Welt für alle Lebewesen beizutragen. Manch eine:r mag Tierrechtsaktivist:innen kritisch gegenüberstehen und fragen: „Wie können wir uns so sehr auf die Misshandlung von Tieren konzentrieren, wenn es doch so viel menschliches Leid in der Welt gibt?“. Ich antworte auf eine solche Frage oft mit dem Hinweis, dass ich versuche, die Ursache des Leids an der Wurzel zu packen. Was wir Anderen antun, tun wir letztlich, aber unweigerlich, auch uns selbst an. Vor diesem Hintergrund gibt es viele Zusammenhänge zwischen der Zunahme von Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Scheidungen und Krankheiten unter Menschen und den Vergewaltigungen, dem Kindesmissbrauch, den Familientrennungen und den grassierenden Krankheiten unter den Milliarden von Tieren, die heute in der Welt zur Ernährung der Menschen gezüchtet werden. Wir können nicht darauf hoffen, dass wir auf Kosten des Glücks Anderer glücklich werden.
Der Verzehr von Fleisch und Milchprodukten ist ein Symptom für die Krankheit eines geringen Selbstwertgefühls. Beide Aktivitäten resultieren aus der fehlgeleiteten Vorstellung, dass wir andere Tiere beherrschen, missbrauchen, ausbeuten und essen müssen, um uns attraktiver, jünger, gesünder oder stärker zu fühlen. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Langfristiger Verzehr von Fleisch und Milchprodukten kann zu einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen führen, darunter Herzkrankheiten, Impotenz, Schlaganfälle und Krebs. Patanjali sagt uns deutlich, dass Gesundheit und Vitalität demjenigen zuteil werden, der in brahmacharya verankert ist – also demjenigen, der Sexualität mit Ehrfurcht begegnet.
Die Praxis von brahmacharya bedeutet, die Grundlagen unserer Kultur in Frage zu stellen, die auf der Domestizierung von Tieren beruht. Wenn wir über Veganismus und brahmacharya sprechen, sprechen wir eindeutig über eine radikale sexuelle Revolution.
Essay taken from Sharon Gannon’s Book Eternity is Happening Now