Vor vielen Jahren fasste ich den Entschluss, auf eine Pilgerreise zu gehen. Der Weg war sehr lang, alles zu Fuß, und ich hatte nur sehr wenige Dinge zur Verfügung. Ich erinnere mich, dass mir jeden Morgen beim Aufwachen tausend Gründe einfielen, um wieder nach Hause zu gehen: Der Weg war zu beschwerlich, im Schlafraum waren zu viele Menschen, die Müdigkeit und der Druck von all dem, was ich zurückgelassen hatte und was mich bei meiner Rückkehr erwartete, waren unerträglich. Tag für Tag wurde die Einfachheit der Reise zu meinem Halt: die Schönheit der verschiedenen Farben der Morgendämmerung, die süße Musik des Regens, das stille Lächeln der anderen Pilger:innen. Es war nicht wichtig, irgendein Ziel zu erreichen, sondern die kostbaren, einfachen Momente zu genießen, die mir diese Reise trotz aller Schwierigkeiten bot.
Das dritte von Patanjalis Niyamas bzw. die Verhaltensweisen des Yogi:nis gegenüber sich selbst, ist „Tapas“, was traditionell mit „Entbehrung“ oder „Disziplin“ übersetzt wird. Das Wort Tapas leitet sich von dem Sanskrit-Verb „tap“ ab, das „brennen“ bedeutet, und es ist das erste Wort des zweiten Kapitels von Patanjalis Yoga Sutras tapaḥ-svādhyāyeśvara-praṇidhānāni kriyā-yogaḥ (PYS 2.1), was bedeutet, dass „wir einen leidenschaftlichen, brennenden Wunsch haben müssen, uns der Disziplin zu unterziehen, die notwendig ist, um unsere Gedanken, Worte und Taten zu reinigen“ (aus: „Eternity is Happening Now“ von Sharon Gannon). Als Yogin:is müssen wir im Feuer unserer eigenen Praxis kochen.
Unser Geist hat die Tendenz, dem Begriff „Entbehrung“ eine negative Konnotation zu geben. Im Yoga bedeutet „Entbehrung“ Einfachheit, die Akzeptanz der Wahrheit, dass wir nichts brauchen, um glücklich zu sein, sondern dass wir wissen, wer wir wirklich sind. Wenn wir ein einfaches Leben führen, ohne uns ständig nach etwas Äußerem zu sehnen, von dem wir glauben, dass es uns glücklich macht, ist unser Geist präsenter und konzentrierter. Je mehr wir glauben, dass wir bestimmte Dinge brauchen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, desto mehr werden wir von ihnen abhängig sein. Je einfacher wir sein können, desto mehr Freiheit werden wir spüren. Durch Einfachheit und Übung erzeugen wir Wärme, die für die Reinigung auf geistiger und körperlicher Ebene notwendig ist. Einfachheit macht den Körper stärker und den Geist ruhig und konzentriert.
Es wird immer Widrigkeiten im Leben geben und unser Geist wird viele Gründe finden, nicht zu praktizieren. Die Versuchung, ein:e „Schönwetter-Praktizierende:r“ zu werden, liegt nahe. Aber Tapas ist die Fähigkeit, die eigene Praxis angesichts von Widrigkeiten aufrechtzuerhalten; es ist etwas, das unsere Fähigkeiten zum Vorschein bringt. Wie das Sutra 2.43 beschreibt, erwächst aus der Fähigkeit, unsere Praxis aufrechtzuerhalten, große Kraft. Aus yogischer Sicht besteht der Grund, Tapas zu praktizieren, darin, den Schleier der Unreinheiten zu entfernen, um unsere wahre Natur zu erkennen. „Patanjali sagt, dass unsere spirituelle Praxis uns durch ihre Herausforderungen verändern sollte und dass sie in uns ein Feuer entzünden kann, das die Selbstsucht verbrennt.“ (Auszug aus Kapitel 9 aus dem Buch „Yoga der Befreiung. Das Praxisbuch des Jivamukti Yoga“ von Sharon Gannon & David Life).
Sowohl Tapas als auch Manipura Chakra sind mit dem Element Feuer (Agni) verbunden, das das Element der „Transformation“ ist. Wir können Transformation erfahren, wenn wir Herausforderungen annehmen und die bewusste Entscheidung treffen, Veränderungen zuzulassen: Aus unserer Komfortzone herauszutreten und uns dem Leben hinzugeben, kann ein Moment des Wachstums sein, in dem wir mehr über uns selbst lernen. Wenn die Dinge zu einfach sind, ist es schwieriger, die Lebenslehren zu erlernen, die es uns ermöglichen, mitfühlendere, weichere und geerdete Menschen zu werden.
Spirituelle und körperliche Praktiken sind tapasisch, wenn wir über einen langen Zeitraum hinweg konsequent praktizieren. Es gilt, jeden Tag eine Zeit zu finden, um präsent zu sein – egal wo, wann oder wie lange – aber es ist wichtig, dass wir es tun. Auf der Yogamatte bedeutet Tapas, die Matte auszurollen und zu üben, sei es Asana, Pranayama oder Meditation oder auch nur, zu sitzen und Tagebuch zu schreiben. Jeden Tag zu üben, ganz egal was, ist ein gnädiges Geschenk des Erinnerns. Wie der Dichter Rumi sagen würde: „Besuchst du dich regelmäßig selbst? Fange jetzt an.“
Eternity is happening now and Jivamukti Book