Der Vers, der liebevoll Guru-Chant genannt wird, stammt aus dem Guru Stotram, einer wunderschönen Sammlung von Shlokas aus der Guru Gita – einem innigen Lied der Hingabe an den Guru. In letzter Zeit hat das Wort „Guru“ leider einige negative Assoziationen hervorgerufen, vor allem aufgrund bedauerlicher Vorfälle mit selbsternannten „Gurus“, die Schaden angerichtet haben. Dies hat die wahre, heilige Bedeutung dessen, was ein Guru repräsentiert – die Verkörperung von Weisheit und Liebe – getrübt. Nur zur Klarstellung: In diesem Text geht es um den wahren Guru, den Beseitiger der Dunkelheit und denjenigen, der niemals Schaden anrichten kann, den Guru, der Gott auf Erden repräsentiert. Hier geht es um Guru als ein Prinzip, das zwar durch eine Person wirken kann, aber auch immer in uns und um uns herum ist.
Das Aufkommen von unaufrichtigen, selbsternannten Lehrer:innen hat zu Skepsis und Angst geführt, wenn es darum geht, einem Guru zu vertrauen oder zu folgen. In spiritueller Hinsicht ist dies ein großer Verlust, denn die Reise der Selbstverwirklichung erfordert ein Leitprinzip. Während viele eine Art „Guru-Trauma“ haben, weil sie negative Erfahrungen gemacht haben, gibt es auch westliche Skepsis und Trotz. Die Weigerung, sich einzugestehen, dass man Führung braucht, verbunden mit dem Glauben an die eigene Selbstgenügsamkeit, kann den spirituellen Fortschritt blockieren. Wir möchten nicht zugeben, dass wir etwas nicht alleine herausfinden können – um Hilfe zu bitten, gilt als Schwäche oder gar als Versagen. Denn wer könnte es besser wissen als wir selbst? Diese Denkweise ist im Westen weit verbreitet, aber für spirituelles Wachstum hinderlich. Für den sadhaka – die:den spirituell Suchende:n – ist der erste Schritt zur Wahrheit, die eigene Unwissenheit – Avidya – anzuerkennen und zu akzeptieren.
Wenn wir etwas lernen wollen, suchen wir normalerweise jemanden auf, der es bereits kann. Und je stärker und aufrichtiger unser Wunsch ist, etwas zu lernen, desto mehr Zeit verbringen wir mit dieser Person. Wir schauen ihr über die Schulter, beobachten, ahmen nach, hören zu, stellen Fragen, probieren aus. Wir lernen – unter der Anleitung eines Menschen, der verkörpert, was wir selbst anstreben.
Die Beziehung zwischen Schüler:in und Lehrer:in, zwischen Sadhaka und Guru, wird durch die reinste Form von Liebe und das höchste Maß an Respekt und Vertrauen geheiligt. Vielleicht gehörst du zu den glücklichen spirituellen Suchenden, die das Geschenk hatten, einem physischen Lehrer zu begegnen – jemandem, mit dem du sprechen und einfach sein konntest. Wenn du das Glück hast oder hattest, eine:n Lehrer:in in dieser Welt zu haben, erinnerst du dich vielleicht daran, dass Liebe, Vertrauen und Respekt zwischen euch von Anfang an da waren – sie mussten nicht verdient werden.
Ein wahrer Guru hat eine sehr starke Energie – Guru Shakti –, die man vielleicht als charismatisch bezeichnen könnte, jedoch nie manipulativ und niemals auf Ruhm oder Zustimmung ausgerichtet ist. Guru Shakti ist für jede:n aufrichtige:n spirituelle:n Sucher:in spürbar, wenn sie oder er ihrer:m Lehrer:in begegnet. Oft werde ich gefragt: „Aber wie finde ich eine:n Lehrer:in?“ Meine Antwort ist immer dieselbe: Du wirst wissen, wenn es so weit ist. Es ist wie Verliebtsein – im unschuldigsten Sinne. Und wie beim romantischen Verliebtsein kann man es nicht erzwingen. Es wird geschehen. In diesem Leben oder im nächsten.
Ich persönlich hatte das große Glück, Lehrer:innen zu begegnen und die liebevolle, urteilsfreie und zutiefst heilende Präsenz eines wahren Gurus zu erfahren.
Ich habe aber auch den Schmerz erlebt, eine:n Lehrer:in durch den Tod zu verlieren. Zwei weitere hörten auf zu unterrichten, zumindest in der Form, wie sie es früher taten. Beide Erfahrungen waren für mich wie ein spirituelles Erwachsenwerden, und ehrlich gesagt fühlte ich mich eine Zeit lang ziemlich verloren. Aber irgendwann verstand ich: Ich wurde initiiert. Und ein:e Schüler:in zu sein bedeutet auch, das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Die Liebe zu einer:m Lehrer:in bringt auch die Verantwortung mit sich, deren:dessen Arbeit fortzusetzen, wenn er:sie sich zurückzieht – ihr:sein Lebenswerk zu ehren und das, was ihr:m heilig ist, selbst zu verkörpern.
Für diejenigen von uns, die von unseren Lehrer:innen beauftragt wurden, andere zu unterrichten, ist es umso wichtiger, ihren Lehren treu zu bleiben und als Sprachrohr für sie zu dienen. Das ist die Schönheit von Parampara – der ununterbrochenen Linie der Überlieferung von Lehrer:in zu Lehrer:in. Wenn wir diese Tradition ehren, sorgen wir dafür, dass die Lehre intakt bleibt, sich weiterentwickeln kann und bereit ist, an die nächste Generation weitergegeben zu werden. Es fällt uns dann auch leichter, demütig zu bleiben – eine der Schlüsselqualitäten für eine:n Sadhaka. Denn letztlich gehört keine Lehre wirklich uns, und auch der Dank unserer Schüler:innen gehört uns nicht – er gehört unseren Lehrer:innen. Sich bewusst zu machen, dass jede:r Lehrer:in nur Schüler:in ihres eigenen Lehrers ist, ist dabei essenziell.
In unserer Kultur ist es leider nicht selbstverständlich, Wissen, Weisheit und Erfahrung zu ehren – wir neigen eher dazu, Geld und Macht anzubeten. Das gilt auch für Yoga: Wir suchen uns vielleicht lieber die:den Lehrer:in mit den meisten Follower:innen auf Social Media oder jene:n, die:der die spektakulärsten Asanas kann, anstatt die:denjenigen, die:der mit Liebe und Fürsorge lehrt – gestützt auf echte Erfahrung.
Die Lehrer:innen unserer Tradition sind noch da – und wir können sie auf viele Weisen ehren und feiern: Wir können sie sehr respektvoll, freundlich und beständig bitten, wieder zu lehren. Und wenn sie Ja sagen, dann müssen wir für sie da sein! Wenn sie eine kürzere oder längere Pause machen, können wir das, was sie uns beigebracht haben, weitergeben – so getreu wie möglich.
Und natürlich können wir das praktizieren, was sie uns gelehrt haben. Das ist das größte Geschenk, das man einem Lehrer oder einer Lehrerin machen kann.