Es gab eine Zeit – und das ist nun schon viele Jahre her – da hockte ich versteckt unter dem Schreibtisch meines Großvaters. Der Schreibtisch war mit einem riesigen Perserteppich bedeckt, der die vier Ecken des Tisches umkleidete und sich endlos über den Boden zog. In diesem Arbeitszimmer, in dem mein Großvater unzählige Stunden verbrachte – mehr Stunden, als der Tag und die Nacht zu fassen schienen – gab es Bücher, so weit das Auge reichte. Die Bücher waren ordentlich in Regalen nebeneinandergereiht, sie standen gestapelt auf dem Boden. Sie schüchterten mich nicht nur ein, weil sie zu dicht waren oder weil es sich meist um Gesetzestexte handelte (mein Großvater war Richter). Rückblickend betrachtet war da auch die Angst, dass ich den Zielen und Bestrebungen, die in diesen Texten enthalten waren, nicht gerecht werden würde.
Das Sanskrit-Wort shāstra hat die Wurzel ‚sās‘, was lehren, anweisen, korrigieren bedeutet. Shāstra wird als Anweisung, Regel, Handbuch, Buch, Werk einer Autorität oder Schrift definiert. Shāstra ist das Studium der alten Schriften und der Sanskrit-Sprache.
Lehrbücher, Schriften und Handbücher können sich für viele von uns oft unerreichbar anfühlen. Die Anweisungen „da drin“ können für das tägliche Leben zu weit hergeholt erscheinen. Die Geschichten, die wir über Heilige lesen, und die Weisheiten, die wir von Lehrer:innen hören, scheinen zu implizieren, dass sie nie einen unfreundlichen oder bösartigen Gedanken hegten, dass sie nie ein anderes Wesen verletzt haben. Wenn wir diese Texte lesen, fragen wir uns vielleicht: Ist das etwas für mich? Ist es für mich möglich, so zu sein, ein heiliges Wesen zu werden? Die unmittelbarste Antwort auf unseren inneren Dialog würde wahrscheinlich lauten: Auf keinen Fall. Das ist nichts für mich! Doch die shāstras weisen auf unser Potenzial hin. Sie erinnern uns daran, dass wir alle von Natur aus zu Freundlichkeit und Mitgefühl fähig sind, dass es unser innerster Wunsch ist, so zu leben, dass das Leben Anderer verbessert wird. Sie erinnern uns daran, dass dies jetzt möglich ist!
Jede Situation, jede Gelegenheit, jede Beziehung kann uns etwas über Yoga, über Wechselbeziehungen, über das Miteinander-Sein lehren. Zum Beispiel wird die Luft, die wir atmen, dank der Bäume gereinigt, was bedeutet, dass wir und die Bäume miteinander verbunden sind. Trotz der Lockdowns, der Masken, des social distancing und der verschiedenen Methoden, die uns geraten wurden, um uns gegenseitig zu schützen, atmen wir doch alle immer noch dieselbe Luft ein und aus. Wenn wir einen Regenbogen am Himmel sehen, dann geschieht das nur, weil bestimmte Ursachen und Bedingungen zusammenkommen – Sonnenlicht und Regen. Dies ist das Gesetz von Ursache und Wirkung in Aktion, eine Lehre über Karma, die uns durch einen bunten Regenbogen am Himmel geboten wird. Die Dinge greifen ineinander und das ist wahr, aber die Wahrheit offenbart sich nur jenem:r, der:die bereit ist, sie zu sehen. Shāstra kann uns darauf vorbereiten, bereit zu sein, die Wahrheit zu sehen.
Die Yoga-Tradition fordert uns auf, nicht einfach zu glauben, was wir hören, sondern selbst direkt Erfahrungen zu machen. Patanjali erläutert im PYS 1.7. drei Möglichkeiten, wie wir Wissen erlangen können: Die Wahrnehmung (pratyaksha) ist die erste. In diesem Fall wird gültiges Wissen aus dem gewonnen, was wahrnehmbar, sichtbar und vor unseren Augen präsent ist (‘aksh’ bedeutet Auge, Sehsinn, eindringen, annehmen). Die zweite gültige Art, Wissen zu erlangen, ist durch Schlussfolgerung oder Argumentation (anumāna). Der dritte Weg ist Wissen, das uns von einer zuverlässigen Quelle (āgāma), einer angesehenen Autorität, vermittelt wird, sei es eine mündliche Autorität (z. B. eine angesehene Person, ein:e Experte:in auf seinem:ihrem Gebiet, der:die Wissen aus erster Hand hat) oder ein schriftlicher maßgebender Text wie eine shāstra.
Shāstra ist einer der fünf Grundpfeiler des Jivamukti Yoga. Diese Säulen bilden die Basis der von Sharon Gannon und David Life mitentwickelten Methode. Texte, Lehren und Anweisungen wurden über die Jahrhunderte hinweg als ein Akt der Großzügigkeit von jenen Menschen weitergegeben, die sie erfahren und gelehrt haben. Diese Lehren wurden auf Palmblätter, Papyrusrollen, Wachstafeln, Tonscherben und sogar auf Höhlenwände geschrieben, in der Hoffnung, dass das Gelernte, Erfahrene oder Offenbarte weiterleben und für künftige Generationen von Wert sein würde.
Spirituelle Lehren werden oft nicht verstanden, wenn wir sie das erste Mal hören – auch nicht beim zweiten oder dritten Mal. Manchmal müssen wir die Art und Weise, wie wir die Lehren hören, ändern, sie mit neuen Augen und aus anderen Blickwinkeln betrachten. Die āsana-Praxis ist wie die Pflege des Bodens, der die Samen der Lehren aufnehmen wird. Wenn wir einen Übungsraum betreten, bringen wir so viel mit. Wir sind vielleicht nicht in der Lage, die Weisheit zu empfangen, die in diesem Moment geteilt wird, aber wir können einen einfachen Klang wie Om oder einen Vers chanten, der uns hilft, unsere Aufmerksamkeit zu lenken und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe zu festigen. Nach der āsana-Praxis kann unsere Erfahrung der Lehren frei von begrifflichen Überlagerungen sein und das erlaubt es uns, etwas zu entdecken, was wir vorher nicht erkannt hatten.
Shāstras sind nicht dazu da, uns einzuschüchtern oder uns abzuschrecken. Stattdessen sollen sie ein Begleiter sein, dessen Zweck es ist, eine Öffnung für eine ehrliche, persönliche, nicht-begriffliche und direkte Erfahrung zu schaffen. Sobald wir uns in unserer eigenen Erfahrung vergewissert haben, entdecken wir, dass die shāstras uns unser eigenes Wissen zurückspiegeln. Von shāstra bis zu āsana, vom Geist bis zum Körper, sind wir ständig eingeladen, unsere innewohnende Fähigkeit zu kultivieren, von unserem täglichen Leben gelehrt zu werden.