Auf Deutsch: Tägliches Sterben

by Moritz Ulrich |
January, 2022
श्री कृष्णः शरणं मम
śrī kṛṣṇaḥ śaraṇaṃ mama

Ich finde Zuflucht im auf alles anziehend wirkenden Gott, der die wahre Identität allen Seins ist.
(Sharon Gannon)

DYING DAILY.

Das neue Jahr ist da, und vielleicht hättest du zu diesem Anlass einen aufmunternden Titel erwartet. Sterben ist nicht das Erste, was uns in den Sinn kommt, wenn wir über Neujahrsvorsätze nachdenken. In der Regel geht es darum, etwas Neues zu schaffen oder eine neue Gewohnheit einzuführen, wie zum Beispiel: „Von jetzt an werde ich jeden Tag Yoga üben“ oder „Dieses Jahr werde ich mich endlich vegan ernähren“ oder so ähnlich. Ich denke, das sind großartige Ziele, doch gleichzeitig stehen uns häufig einige Blockaden im Weg, die uns daran hindern, diese Ziele zu erreichen. Manche Hürden sind vielleicht leicht zu nehmen („Ich muss mir zuerst eine Yogamatte kaufen“), während andere vielleicht weniger greifbar sind: „Was wird mein:e Partner:in über eine vegane Ernährung denken?“. Sich Ziele zu setzen, ist eine wirkungsvolle Methode, und diese Ziele klar und präzise zu formulieren, ist ein wichtiger erster Schritt. Was jedoch oft fehlt, ist Folgendes: Können wir uns vorstellen, wie wir uns fühlen müssen, um diese Ziele zu erreichen, oder welche Einstellung hierzu notwendig wäre?


Damit etwas beginnen kann, muss etwas Anderes enden.

Ganz unabhängig davon, was beginnt – für jeden Anfang muss etwas Anderes ein Ende finden. Dies ist der universelle Zyklus von Anfang, Mitte und Ende. Dieser Zyklus ist überall zu finden. Denken wir an die heilige Dreifaltigkeit von Brahma (Anfang), Vishnu (Mitte) und Shiva (Ende) oder an die Klänge von OM: A (Anfang), U (Mitte) und M (Ende). Oder an unser eigenes Leben: Wir wurden geboren, wir leben und wir werden sterben. Wann immer wir in der Natur etwas Neues erblühen sehen, ist sicher, dass es etwas Anderes gab, das dort zu Ende gegangen ist. Wenn der Sommer beginnt, ist der Winter zu Ende. Damit in manchen Gegenden der Welt neue Pflanzen wachsen können, ist möglicherweise ein Feuer nötig, das die meiste Flora und Fauna vernichtet. Wenn wir eine neue Gewohnheit annehmen wollen, werden wir wahrscheinlich – und manchmal unbeabsichtigt – eine andere aufgeben. Wir müssen vor allem den Gedanken verwerfen, der uns davon abhält, ein neues Verhalten in unser Leben zu integrieren.


Die Angst vor dem Ende.

Etwas oder jemanden zu verlieren, kann eine Herausforderung sein. Meistens denken und sprechen wir stattdessen über neue Dinge:

  • Ein Baby, das geboren wurde.
  • Ein:e Partner:in, den:dir wir geheiratet haben.
  • Das Geld, das wir verdient haben.
  • Jegliche andere Errungenschaft.

Die meisten von uns erfreuen sich an diesen Ereignissen und frönen ihnen. Wenn du dir das Gegenteil dieser Beispiele vorstellst, sieht es vielleicht ganz anders aus: Diese gegenteiligen Ereignisse möchten wir lieber verstecken oder tief in uns vergraben und sie nicht entsprechend feiern. Dieses Verhalten trifft auf die meisten Kulturen zu. Und doch wird in einigen Gegenden unserer Welt ein Fest zelebriert, wenn eine Seele ihren Körper verlassen hat. Es wird gesungen, getanzt und der:die Verstorbene wird gepriesen. Woher kommt diese Angst vor dem Ende der Dinge? Vielleicht ist sie auf unsere Erziehung zurückzuführen, auf etwas, das wir in unserer Kindheit erlebt haben, oder sie rührt einfach aus einem reinen Überlebensinstinkt. Meiner Meinung nach ist es nicht wichtig, die genaue Ursache der Angst zu ergründen. Der entscheidende Schritt ist vielmehr, sich ihrer bewusst zu werden.

 

Śavāsana ist eine wichtige Praxis.

Während der Asana-Praxis haben wir die hervorragende Gelegenheit dazu. Śavāsana bedeutet übersetzt „Leiche“ (śava) und „Sitz“ (āsana). In diesem Abschnitt der Klasse können wir das Sterben üben. Manche betrachten diese Haltung als die wichtigste Asana, die niemals ausgelassen werden sollte. Gleichwohl habe ich erlebt, dass viele Menschen kurz vor Shavasana die Matte verlassen. Auf meine Nachfrage hin haben sie alle gute Gründe: Sie wollen nicht zu spät zu einem anderen Termin kommen, sie haben Schwierigkeiten, auf dem Rücken zu liegen, sie wollen die Energie, die sie aufgebaut haben, nicht abbauen, usw. Während einige dieser Gründe durchaus wahr sein können, bin ich davon überzeugt, dass in den meisten Fällen die zugrundeliegenden Gründe, aus denen wir śavāsana nicht praktizieren, die Angst vor dem Loslassen, die Angst vor der Hingabe und letztlich unsere Angst vor dem Tod sind. Patanjali erwähnt abhinivesha als eines der fünf Hindernisse auf unserem Weg zum Zustand des Yoga. Wörtlich ist dieser Begriff mit „Festhalten am Körper“ oder einfach mit „Angst vor dem Tod“ zu übersetzen.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, den Prozess des Loslassens zu unterstützen. Das Abspielen von Musik ist hilfreich. Die Augen zunächst offen zu halten, ist ebenfalls ein gutes Mittel, um ein Gefühl von Sicherheit zu schaffen. Alternativ kann man sich eine Zeit lang auf den Atem konzentrieren, bevor man loslässt. Eine geführte Entspannungs- oder Yoga Nidra-Praxis kann den Übenden helfen, die Erfahrung zu intensivieren und sie „an die Hand nehmen“, damit sie sich schrittweise an diese Erfahrung herantasten.

 

Zuflucht in der Hingabe finden.

Die Verwendung einer entspannenden Massagelotion, z. B. auf Lavendelbasis, kann eine tiefgreifende Wirkung haben. Wenn du jemandem diese Massage gibst, denke daran, dass deine Aufgabe darin besteht, den Prozess des Loslassens und den Prozess des Sterbens zu erleichtern. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Tiefengewebsmassage. Überlege dir stattdessen, wie du um deinem Gegenüber durch deine Berührung ein wohliges Gefühl vermitteln kannst, damit er:sie vollständig loslassen kann. Als fortgeschrittene Übung für dich selbst oder deine Schüler:innen könntest du Sätze vorschlagen wie „Krishna, nimm mich. Nimm meine Beine, Arme und meinen Körper“. Natürlich ist Krishna hier ein Platzhalter für alles, was uns am Herzen liegt, für alles, was wir als kosmische göttliche Form im Leben ansehen. Das ist die ultimative Praxis der Hingabe an das Göttliche. Das ist ein Weg, im Universellen, Ultimativen und Unveränderlichen Zuflucht zu finden.

 

Werden wir uns der Bedeutung des Endes von Dingen bewusster und schaffen wir somit innerlich und äußerlich Raum, damit neue wunderbare Dinge beginnen können.

Teaching Tips

    1. Leite eine geführte Entspannung an. Du kannst den folgenden Aufsatz als Referenz verwenden. (LINK)
    2. Wenn du Schüler:innen hast, die Schwierigkeiten haben, śavāsana zu üben (und vielleicht immer kurz vorher den Raum verlassen), gib ihnen Alternativen, wie z. B. die Augen offen zu halten, sich auf den Atem zu konzentrieren oder Hilfsmittel unter dem Körper zu verwenden.
    3. Experimentiere damit, śavāsana zu verschiedenen Zeitpunkten in der Klasse zu üben. Du könntest sogar mit śavāsana beginnen.
    4. Übe das Chanten der verschiedenen Klänge von OM und spüre, wie die Schwingungen in verschiedenen Körperteilen mitschwingen, indem du die Hände darauf legst: A in der Brust, U am Hals und M auf dem Scheitel des Kopfes.
    5. Bitte die Schüler:innen, sich auf das M von OM zu konzentrieren und es besonders lang zu ziehen. Du kannst damit experimentieren, das M zu „kauen“ und es förmlich auszukosten und zu genießen.
    6. Achte beim Unterrichten von Asana-Sequenzen besonders auf ein präzises Ende (und einen klaren Anfang). Stelle sicher, dass die Schüler:innen sich der Bedeutung eines bewussten Endes gewahr werden.
    7. Frage die Schüler:innen, was sie in ihrem Leben nur schwer beenden können und warum dies so herausfordernd ist. Vielleicht können sie diese Gedanken zu Beginn der Stunde auf ein Blatt Papier schreiben und es unter ihre Matte legen. Bitte sie am Ende der Stunde, den Zettel draußen zu verbrennen oder ihn als Darbringung auf den Altar zu legen.
    8. Erkläre den Schülern:innen die drei Guṇas und lege den Fokus auf die Bedeutung von Tamas, das für Übungen wie śavāsana entscheidend ist.
    9. Chante „Om Tryambakam“ und füge am Ende „svaha“ hinzu. Dieses Mantra gilt als Mittel zur Überwindung des Todes. Erkläre, was dieser Gedanke im yogischen Sinne bedeutet, da nur das kleine Selbst sterben kann.
    10. Sprich in der Klasse über abhiniveśa als „Anhaften an die physische Form“ oder „die Angst vor dem Tod“.

     

     

    Deutsche Übersetzung: Judith Quijano