„Wenn āsanas, die Abfolge von Wandlungen, mit dem Atem und bewusster Absicht verwoben werden, richten wir uns auf den kontinuierlichen Fluss, den wellenförmigen Rhythmus des Universums aus.“ – Sharon Gannon.
Vinyāsa ist eine bewegte Meditation, die fünf Komponenten umfasst: die Absicht, den Blick, den Atem, die Bewegung und mūla bandha. Wenn sie zusammen praktiziert werden, hat die Magie keine andere Wahl, als sich zu erheben! Wenn wir alle fünf Komponenten in der Praxis koordinieren, haben wir das Potenzial, Yoga zu erfahren. Ähnlich wie Musik ist vinyāsa eine Erfahrung in der Zeit. Die Ujjāyi-Atmung gibt uns einen physischen Klang, um den Fokus auf das Zuhören zu richten. Sie liefert auch ein Tempo, ein Timing für die Praxis. Indem wir unsere Bewegungen in der Zeit platzieren, können wir uns der Entfaltung der Abfolge des Lebens bewusst werden. Die rhythmische Atmung dient als musikalischer Takt oder Metronom, durch den/das sich die Abfolge von āsana wie eine Melodie bewegt. „Um die Zeit zu transzendieren, müssen wir zuerst Meister:innen des Timings werden. Wir müssen musikalisch werden.“ – Sharon Gannon.
Surya namaskār oder Sonnengruß wird typischerweise praktiziert, indem man sich fließend zu einem gleichmäßigen Atem durch eine Reihe von āsana bewegt, wobei jede Bewegung den gleichen Atem erhält. Der Atem und der Körper bilden zusammen eine Art von Musik. „Yoga ist wie Musik: Der Rhythmus des Körpers, die Melodie des Geistes und die Harmonie der Seele bilden die Symphonie des Lebens.“ – BKS Iyengar.
Die Vinyāsa-Praxis wird manchmal auch als „bewegte Meditation“ bezeichnet. Anders als bei einer sitzenden Praxis, bei der die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Objekt gerichtet ist, fokussieren wir bei Vinyāsa buchstäblich den stets gegenwärtigen, sich entfaltenden Moment (kṣaṇa) – wir meditieren über die Zeit selbst. Der dṛṣṭi/Blick bewegt sich mit unserer Aufmerksamkeit, unsere auf einen Punkt gerichtete Aufmerksamkeit folgt dem Fluss der Zeit durch die Reihe unserer Handlungen. Man denke beispielsweise an Zeitrafferfilme, die die gesamte Entwicklung einer Blüte im Schnelldurchlauf zeigen: Durch den Zeitraffer können wir sehen, wie jeder Moment in einer ununterbrochenen Abfolge zum nächsten führt. „Der Yoga liegt in den Übergängen.“ – David Life.
Wenn wir die Natur der Veränderung auf diese Weise erforschen, können wir vielleicht auch einen Blick auf das werfen, was unveränderlich und ewig ist. Wenn wir vinyāsa krama praktizieren, bewegen wir uns durch den Raum und beobachten alles, was sich verändert, den Körper, den Geist, die Umgebung; um auch das wahrzunehmen, was sich nicht verändert: das ewige Selbst, die ultimative Wirklichkeit, Brahman.
Die Praxis gibt uns auch Einblicke in die Eigenschaften von Ursache und Wirkung. Die Bewegungen sind eine Erforschung dessen, wie wir in der Welt handeln. Krishna erinnert Arjuna daran, dass die Aufgabe des:r Yogin:is das Ergründen von weisem Handeln (und weiser Untätigkeit) ist. Indem wir erforschen, wie Gedanken zu Worten, Worte zu Handlungen und Handlungen zu Gewohnheiten werden, können wir das Selbst in seiner Beziehung zu Anderen untersuchen. Indem wir verstehen, woher unsere Beweggründe kommen und wie unsere Vorurteile und Präferenzen unser Handeln beeinflussen, steigern wir unser Verständnis und unser Einfühlungsvermögen für andere und verstärken unsere eigene Tendenz, in der Welt mitfühlend zu handeln. Inzwischen haben Studien sogar gezeigt, dass
unser Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit zunimmt und sich darüber hinaus unsere Neigung zu mitfühlendem Handeln erhöht, wenn wir uns im Einklang bewegen.
Die konsequente Anwendung von mūla bandha verbindet die anderen Komponenten miteinander, gibt ihnen allen einen energetischen Schub und kanalisiert sie in eine Richtung – wie ein Glasfaserkabel, das die Energie in eine bestimmte Richtung bewegt. Mūla bandha organisiert und lenkt die Energie der fünf Komponenten des Vinyāsa.
Dṛṣṭi, der Blick, bezieht sich auch auf unsere Vision; darauf, in allem das Göttliche zu sehen. Eine höhere Intention, die Hingabe und die Liebe zur Erforschung des Selbst mit dem Ziel, unsere Verbindung untereinander zu verstehen, erheben die Praxis von einer banalen Reihe von Bewegungen zu dieser unbeschreiblichen Erfahrung. Ebenso, wie das Gefühl von Musik nicht allein durch Noten auf einem Blatt Papier vermittelt werden kann, bedarf es auch hier einer Kombination aus Instrument, Musiker:in und dem Genie des Geistes.