FOKUS DES MONATS JULI 2014: Sex, Tod, Schlaf, Liebe, Magie und Pratyahara

by Sharon Gannon |
July, 2014

Betrachte alles, was du siehst, als dein Selbst.

Shandilya Upanishaden

 

Guruji, was ist Pratyahara?”, fragte ich meinen Lehrer. Er kam näher, drehte mein Gesicht, so dass ich eine Wand in seinem Übungsraum sehen konnte und fragte, „Schau dir diese Wand an und sag mir, was du siehst!” „Eine Wand?” fragte ich vorsichtig. „Wenn du eine Wand siehst, musst du Pratyahara üben. Danach siehst du dort Gott, keine Wand.

Yoga ist eine  tantrische Praxis, in der die Übenden das Leben in allem sehen und als lebende  Manifestation von Gott verstehen. Im yogischen Zustand des Samadhi erkennst du die Einheit mit allem, was lebt. In den Augen verwirklichter Yogis ist die Welt nicht mit von ihm getrennten Anderen – lebenden Wesen oder unbeseelten Dingen –  bevölkert, sondern er nimmt das Selbst/Gott in allen Aspekten des Lebens wahr. Um die falsche Trennung zwischen dem selbst und dem Anderen, zwischen dem selbst und der Natur oder dem selbst und Gott zu durchbrechen, müssen wir die Illusion der Andersartigkeit überwinden. In der praktischen Umsetzung bedeutet das, dass du dem Anderen ein Gesicht gibst. Du beziehst dich auf andere als Personen, du beziehst dich sogar auf die Erde als eine Person. Tiere, Bäume, Pflanzen, selbst Flüsse und Bäche und Meere oder Regen und Wind werden für dich zu Personen. Du siehst die lebendige Welt nicht mehr als eine Ansammlung lebloser Dinge oder nicht fühlender, gesichtsloser Tiere, Pflanzen, Minerale oder Urgewalten, sondern als Individuen, genau wie dich selbst. Wenn du die ganze Welt als etwas Lebendiges wahrnimmst, wird es einfacher, dich auf deine Umgebung zu beziehen und mit ihr zu interagieren. Du fühlst dich nicht mehr einsam, als Zielscheibe der anderen oder als passives Opfer. Pratyahara ist die Praxis, mit der du deine Wahrnehmung reinigst – du glaubst nicht mehr nur an das, was du mit deinen Augen sehen kannst, sondern schaust tiefer. Wenn du dich mehr auf die Ähnlichkeiten mit anderen konzentrieren kannst, anstelle die Unterschiede zu betonen, bahnst du dir damit einen Weg und gewinnst einen Zugang, über die Illusion des Getrenntseins hindurch oder darüber hinaus zu gehen.

Du weißt ja, wie es ist, wenn du dich verliebst. Am Anfang scheint ihr beide noch getrennte Personen zu sein, aber langsam verzaubern dich die Gemeinsamkeiten mehr als die Unterschiede zwischen euch beiden. Das bringt dich der anderen Person noch näher und das getrennte Gefühl verschwindet. Vielleicht gibt es sogar Momente, in denen ihr euch wie eine Person fühlt. Vielleicht dauert es nur einen kurzen Moment, aber in diesem Moment weißt du, dass es möglich ist. Man sagt, dass jeder Mensch diese kosmische Realität viele Male im Leben erlebt. Um die Einheit mit allem zu erleben, musst du kein erleuchtetes Wesen und kein/e Heilige/r sein. Es geschieht im Moment des sexuellen Orgasmus und wenn du stirbst. Es passiert auch nachts wenn du tief schläfst und deine Identifikation mit deinem Ego/deiner Persönlichkeit verlierst, mit deinem Körper und deinem Geist. In diesem Zustand erlebst du dich selbst nicht mehr als getrennt, sondern lässt die Identifikation los. Für die meisten Leute sind die vereinigenden Momente von Orgasmus, Tod und Tiefschlaf unwillkürlich und befinden sich jenseits ihrer bewussten Kontrolle.

Ein Yogimöchte den Zustand des Tiefschlafs wach erleben, eine bewusste Erfahrungkontinuierlicher Ekstase, wie ein nicht enden wollender Orgasmus.  Wir könnten die Metapher des Orgasmus auchmit der des Tods ersetzen. Viele Tantriker meditieren über den Tod, andere überSex und andere über Schlaf. Das Wort Tantra bedeutet sich über etwas hinausziehen: tan=ziehen, dehnen + tra=über etwas hinaus. Die tantrischenYogis dehnen die Wahrnehmung ihres Selbst und anderer so weit, dass ihreWahrnehmung auf magische Weise die ganze Existenz umfasst, wozu natürlich auchdas Göttliche gehört. Für verwirklichte Yogis gibt es weder ein Außen noch eineTrennung von Gott.

Das Wort Sex bedeutet Trennung. Etymologisch hat das Wort Sex die Lateinischen Wurzeln seco und secare und bedeutet „trennen, schneiden oder teilen.“ Eigentlich erledigt sich im Moment des Orgasmus der Sex oder die Trennung. Du verlierst dich selbst und erlebst die Verbindung zu allem, wenn auch nur für einen Moment. Im Moment des Todes verlässt du deinen Körper und vereinigst dich mit dem Ozean des Lebens – die Identifikation des Selbst als getrenntes Wesen, gefangen in einem Körper aus Fleisch und Blut verwandelt sich in die Verschmelzung mit dem Potential des Universums. Die Erfahrung des Samadhi hat Ähnlichkeit mit Orgasmus, Tod und Schlaf, in denen sich alle Formen der Trennung in die Realität des Einsseins auflösen. Yoga bedeute „jochen, vereinigen, die Trennung auflösen.“ Yoga ist der Gegenpol von Sex, weil Sex Trennung bedeutet – zu teilen oder zu trennen – und Yoga bedeutet Vereinigung – in einem Joch zusammen bringen. Der Zustand von Yoga ist der Zustand von bedingungsloser Liebe. Die magische logische Suche bedeutet, dich selbst in anderen zu sehen – so tief in andere hinein zu sehen, dass sich das Anderssein auflöst und nur das Selbst – nur Gott, nur Liebe – übrig bleibt. Durch die Praxis von Pratyahara – tief hinein schauen – verfeinerst du deine eigene Fähigkeit, äußere Unterschiede zu überwinden, die in anderen Wesen und Dingen so offensichtlich sind, um das wahrzunehmen, was alle Wesen und Dinge miteinander verbindet – die universelle Lösung, die göttliche Kraft ewiger Liebe, die wirkliche Essenz des eigenen Selbst.

—Sharon Gannon

Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team