Fokus des Monats Juni 2017: Pratyahara – Wohin wir unsere Energie lenken

by Antje Schafer |
June, 2017
Yama-niyama-āsana-prāṇāyāma-pratyāhāra-dhāraṇā-dhyāna-samādhayo‘ṣṭāvaṅgāni. Die Beachtung der Verhaltensgrundsätze gegenüber anderen, die Beachtung der Verhaltensgrundsätze gegenüber sich selbst, die Körperhaltungen, das Regulieren und Freisetzen des Atems, das Zurückziehen der Sinne, Konzentration, Mediation und Ekstase – das sind die acht Glieder des Yoga.
Yoga Sutra des Patanjali II.29
Während der Praxis von pratyahara, einem der acht Glieder des Ashtanga Yoga, ziehen wir die Sinne nach innen, um die Aufmerksamkeit auf die innere Welt zu lenken, statt unsere Energie ausschließlich für die Außenwelt zu verwenden. Was wir in der Außenwelt wahrnehmen, ist nur ein Teil unseres ganzen Bewusstseins. Pratyahara bietet die Brücke zwischen den nach außen gerichteten Praktiken yama, niyama, asana und pranayama (vom Groben) zu den nach innen gerichteten Praktiken dharana, dhyana und samadhi (zum Feinstofflich). Die Energie, die davon enlastet wird, nach außen zu fokussieren, frei von dem Verlangen zu handeln und Informationen zu sammeln, kann stattdessen sinnvoll gelenkt werden und dazu beitragen, zu realisieren, wer wir wirklich sind, nämlich reines Bewusstsein.
Worauf richten wir unsere Energie die meiste Zeit? Wir schenken unsere kostbare Aufmerksamkeit durch die Identifikation mit sensorischem Input und unserer erlernten Persönlichkeit ausnahmslos der Außenwelt. Betrachten wir z.B. unser Selbstbild und wie wir uns der Welt präsentieren möchten. Wie sehe ich aus? Wie sehen andere mich? Wie will ich wahrgenommen werden? Diese Art von Verhalten verbraucht einen großen Teil unserer Energie über den Lauf eines Tages. Pratyahara als Praxis bedeutet nicht, dass wir uns nicht um uns selbst kümmern sollten oder dass wir Schönheit nicht wertschätzen sollten. Es bedeutet sich bewusst zu werden, wie viel Aufmerksamkeit wir unserem äußeren Erscheinen widmen und die Energie die wir zur Aufrechterhaltung dessen verschwenden, zu reduzieren. Satsang ist in dieser Hinsicht eine starke und hilfreiche Yoga Praxis. Von Menschen umgeben zu sein, die an Yoga und Selbst-Realisierung interessiert sind, anstatt an einem mühsam kreierten äußeren Erscheinungsbild zu haften, unterstützt uns dabei, uns von falschen Identifikationen zu befreien.
Um unsere Aufmerksamkeit nach innen richten zu können, müssen wir die äußeren Ablenkungen auf ein Minimum reduzieren. Womit füttern wir unseren Geist den ganzen Tag? Informationen aus Nachrichten, Fernsehen, E-Mails, soziale Medien, Magazine und Werbung, die in uns Emotionen auslösen und uns mitteilen, was wir als nächstes brauchen. Wie gehen wir mit all diesen Informationen um? Manche nutzen Alkohol, Drogen und Klatsch. Wir reden und denken mehr, im Versuch all diesen Input zu verarbeiten. Leider macht dies es noch schlimmer. Wir sollten stattdessen versuchen, unseren Geist zu beruhigen! Wir müssen in der Lage sein, alles was uns passiert, alles was wir sagen und denken und tun, zu verarbeiten. Such dir etwas, was dir weniger Neues zu verarbeiten gibt. Als Übung schreib auf, was dich während deiner Asana- oder Meditations-Praxis ablenkt. Was hat es schwierig gemacht, sich zu konzentrieren? Indem du es in Worte fasst, kannst du dir bewusst machen, was dich beschäftigt, während du versucht, dich auf etwas Höheres als deine täglichen Ablenkungen zu fokussieren. Dann beginnst du ein Gefühl dafür zu entwickeln, was wirklich wichtig für dich ist und welche Art von sensorischem Input du reduzieren möchtest.
Um zu verstehen, was während des Prozesses von Pratyahara passiert, ist die für mich die Philosophie von Samkhya hilfreich. Dort bekommen wir eine genaue Zusammenfassung darüber, wie der Mensch funktioniert, was Einfluss auf unser Verhalten hat und wie wir die Welt wahrnehmen. Wir alle sind uns unserer fünf Sinne bewusst, in Sanskrit als buddhendriyas bezeichnet. Außerdem gibt es die karmendriyas oder „Organe/Sinne der Handlung“ (sprechen, greifen, bewegen, eliminieren, erzeugen). Dies sind fast immer unmittelbare, unbewusste, automatische, spontane und erlernte Reaktionen auf Sinneswahrnehmungen. Ich sehe zum Beispiel etwas, was ich mag, z.B. einen Brownie. Für andere wäre es eine Zigarette, ein Steak, eine attraktive Person oder ein neues paar Schuhe. Ich sehe den Brownie, ich will den Brownie und meine Hand greift nach dem Brownie. Um zu verstehen, warum wir uns verhalten, wie wir es tun, müssen wir die Verbindung von Sinneswahrnehmung, Geist und Handlung betrachten. Dann haben wir die Möglichkeit, etwas zu verändern. Sich bewusst zu sein, was uns unsere Handlungen motiviert, macht es leichter loszulassen und beruhigt unser Leben. Bewusstes Handeln reduziert Ablenkung und erhöht die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nach innen lenken, entdecken wir die drei Komponenten unserer mentalen Aktivität. Die dominanten Komponenten sind der denkende Teil, der Geist (aanas) und der Teil, der eine Meinung hat, unser Ego (ahamkara). Der Teil, der nur beobachtet (buddhi) ,ist leicht versteckt, aber immer präsent. Indem wir unseren Geist trainieren, können wir in die automatischen Prozesse eingreifen und unsere erste Reaktion stoppen. Dann haben wir Zeit zu reflektieren und bewusst zu handeln. Brauche ich den Brownie? Bin ich hungrig? Brauche ich mehr Süßigkeiten? Was habe ich den ganzen Tag gegessen? Was sind die Konsequenzen für mich und andere? Führt meine Reaktion zu mehr Leid bei anderen? Was sind meine ethischen und moralischen Grundsätze? Wie möchte ich agieren, statt nur zu reagieren? Sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen wird zu Veränderungen im Verhalten führen, die auf frei getroffenen Entscheidungen beruhen, in denen das Ego hoffentlich eine geringere Rolle spielt. Selbstloses und gewaltfreies Verhalten reduziert die Dominanz des Egos und führt zu mehr Frieden in der Welt und dem Geist.
Ein praktischer Aspekt des Trainings des Geistes ist es, Dinge bewusst wie ein Zeuge zu betrachten. Übe zu beobachten, ohne zu urteilen, ohne Worte, nur zuschauen. Beobachte z.B. deine Gedanken während der Yoga-Praxis. Wir müssen nicht bei den Gedanken bleiben, wir müssen sie nicht beschreiben und wir müssen noch nicht einmal darüber nachdenken, woher sie kommen. Wir können uns bewusst machen, dass unser Geist einen Gedanken denkt und den Gedanken dann los lassen. Das bringt uns näher zu buddhi, unserer Intelligenz, die es erlaubt, unser höherer Selbst zu erkennen – pures Bewusstsein.
Die Praxis von Pratyahara zeigt uns, wie viel Einfluss Kultur hat, die äußeren Umstände, unsere Erfahrungen, unsere persönlichen Verhaltensweisen und Eigenschaften und natürlich unsere Präferenzen und Abneigungen. Nach innen zu gehen offenbart uns eine differenzierte Ansicht unseres gesamten Bewusstseins. Das Ego – oder besser „der Schöpfer unseres kleinen selbsts“ – kann identifiziert und eliminiert werden, sodass buddhi enthüllt werden kann, eine klare und freie Wahrnehmung. Wie Sharon Gannon und David Life in Jivamukti Yoga: Practices for Liberating Body and Soul, sagen: „Durch Pratyahara können wir von unseren äußeren Fixierungen zu innerer Offenbarung reisen.“
Antje Schäfer
Copyright Deutsche Übersetzung: Jivamukti Berlin GmbH
Der Originaltext findet sich unter https://jivamuktiyoga.com/focus
 
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team