FOKUS DES MONATS MÄRZ 2017: MATSYENDRANATH, DER FISCH�

by Sharon Gannon |
March, 2017
hānam eṣāṁ kleśavad uktam – Das größte Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung sind unsere eigenen Vorurteile, die aufgrund unserer Neigungen und Abneigungen entstanden sind.
PYS IV. 28
Vor ewigen Zeiten saß Shiva, der große, weise und überirdische Gott der Wandlung, neben seiner Gefährtin, der großen Göttin Parvati. Er erzählte ihr von den Methoden des Yoga, die er vor kurzem entdeckt hatte. Seine Erzählung war sehr lang und er bemerkte nicht, dass Parvati sich langweilte. Schließlich hatte sie das ganze System des Yoga entworfen und brauchte wirklich nicht darin unterrichtet zu werden. Während Shiva sprach, tauchte Parvati ihre Hand in den Fluss und begann das Wasser sanft zu streicheln. Durch ihre graziöse Handbewegung kräuselte sich die Wasseroberfläche und die Kräuselungen wurden zu Wellen. Ein Fisch ahnte, dass etwas interessantes am Ufer geschah und entschied sich es aus der Nähe zu untersuchen. Dieser Fisch namens Matsya hörte Shivas Unterweisungen mit ungebrochener Aufmerksamkeit zu. Als Matsya Shiva bat, noch einmal von vorne zu beginnen, willigte dieser sofort ein, ohne im Geringsten verwundert zu sein, dass es sich bei Matsya um einen Fisch handelte. Shiva behandelt alle Seelen mit gleichem Respekt. Er ermittelt die Würdigkeit einer Person, anhand ihres Verlangens nach der Wahrheit und nicht nach ihrem Alter, ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer Spezies.
Shiva gab Matsya den Namen Matsyendranath oder “Herr der Fische” (Matsya bedeutet zufällig auch Fisch auf Sanskrit und Indra bedeutet Herr). Er gab ihm den Auftrag, andere in Hatha Yoga zu unterrichten. So funktioniert es. Der Lehrer gibt die Lehren an den Schüler weiter, woraufhin es die Aufgabe des Schülers ist, zum Lehrer zu werden. Und so war Matsya der erste Schüler, der zu Matsyendranath wurde und die Lehren an andere übermittelte. Yoga wird von dem Lehrer an den Schüler übermittelt, in einer ungebrochenen Tradition, die noch heute fortbesteht. Alle unter uns, die sich zu den Lehrern des Hatha Yogas zählen, sind Nachfolger des Fisches, der Matsya hieß.
Am Anfang der Hatha Yoga Pradipika würdigt Swatmarama, der Autor, die Vermittlung dieser Tradition von Adinath (Shiva) an Matsyendranath. Aber viele Menschen finden es schwer zu glauben, dass der erste Yoga Schüler ein Fisch war. Wie soll das möglich sein? Ein Fisch kann weder eka pada shirshasana noch padmasana ausführen! Automatisch kommt die Annahme, dass Matsya ein Mensch gewesen sein muss. Sie glauben, dass er wegen weit auseinander stehende Augen, einer schuppigen Haut, oder irgend einem anderen Merkmal diesen Namen trägt, der an einen Fisch erinnert. In Indien gibt es Bilder von Matsyendranath und er wird als starker Mann mit langem Haar und Bart abgebildet, mit zwei Beinen anstelle eines Fischschwanzes.
Warum ist es undenkbar für uns, dass ein Fisch direkt von Gott unterrichtet und zu einem Yoga Guru wurde? Der Grund sind tiefliegende Vorurteile. Wir Menschen nehmen arroganter Weise an, dass wir die einzige Spezies auf dem Planeten sind, die mit Bewusstsein, Intelligenz, Sprache und einer Seele ausgestattet wurden. Wir denken, dass es immer so war, obwohl tatsächlich alle Lebewesen diese Qualitäten besitzen. Wissenschaftler bestätigen, dass es Leben auf diesem Planeten gab, bevor der Mensch erschien. Es gab eine Zeit, in der Wesen des Wassers in weit größerer Zahl waren, als alle anderen Lebensformen dieser Erde. Die Veden erzählen von den 10 Inkarnationen Vishnus und die erste Inkarnation war ein Fisch!
Ich habe mal erlebt, wie jemand die Geschichte von Matsyendranath mit der biblischen Geschichte von Jonah und dem Wal verglichen hat, um das “Fisch”-Problem rational zu lösen. “Jonah”, sagte dieser Lehrer, “war ein Mann, der von einem Wal verschluckt wurde. Er ist in einem Wal, was so etwas wie ein großer Fisch ist. Jonah war eine weise und bedeutende Person in der Bibel. Matsyendranath war Jonah ähnlich – ein Mensch im Körper eines Fisches. Wenn du Matsyendranaths Namen am Anfang der Hatha Yoga Pradipika liest, dann denke nicht, dass es auf einen echten Fisch weist.” Der Lehrer war sehr darauf erpicht, seinen Standpunkt zu verdeutlichen und endete mit: “Matsyendranath war ein Mensch, eine Person.” Als ich dies hörte, fragte ich mich: “Sagen die, das er eine Person im Körper eines Fisches war? Und wenn dem so sei, haben dann nicht alle Fische eine Person in sich? Ist nicht jeder Fisch wahrhaftig innerlich auch eine Person? Sind nicht alle Lebewesen auch Personen? Wenn wir eine Person als jemanden mit einer Seele definieren – als jemanden, der fühlen und denken kann, der sich um seinen Leben sorgt, der sich um seine Kinder kümmert, der sich um seine Eltern kümmert, der sich sorgen kann und Gefühle hat – dann ist die Antwort ja, ein Fisch ist eine Person.”
Die Vedischen Lehren besagen, dass alles Brahman ist – außer Gott gibt es nichts anderes in diesem Universum. Gott wohnt allen Lebewesen inne, verborgen innerhalb ihrer äußeren Form. Dennoch ist die essenzielle Natur aller Seelen göttlich. Die äußere Form eines jeden Lebewesens oder einer jeden Sache, ist nicht ihre wahre und immerwährende Identität. Ich denke, dass der Lehrer, der nicht wollte, dass wir uns Matsyendranath womöglich als einen “echten Fisch” vorstellen, noch nicht in der Lage war, so zu denken. Vorurteile auf der Grundlage der Spezienzugehörigkeit hindern uns an der Annahme einer solchen Idee. Ich hoffe, die Zeit wird bald kommen, in der wir andere Tiere nicht als untergeordnet ansehen und in der wir als Lehrer uns nicht schämen zu unterrichten, dass die großen Gurus nicht immer in menschlicher Form erscheinen müssen.
– Sharon Gannon
Copyright Deutsche Übersetzung: Jivamukti Berlin GmbH. Der Englische Originaltext findet sich unter https://jivamuktiyoga.com/focus.
 
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team