Die Langhaarige trägt in (ihrem) Innersten Feuer und Gift sowie Himmel und Erde zugleich. (Sie) anzusehen ist wie den himmlischen Glanz in seiner Vollkommenheit wahrzunehmen. (Sie) soll das Licht selbst sein…
Da sie des Windes Pferd ist, Vayus Gefährte und von Gott geschaffen, ist die Weise in beiden Ozeanen zuhause, dem Östlichen und dem Westlichen…
Umherstreifend auf der Spur der himmlischen Wesen und der wilden Tiere des Waldes ist die Langhaarige, ihre Bestrebung kennend, ein süßer und überaus erhebender Freund…
– Rg Veda 10.136 Die langhaarige Weise
Dieser Verweis auf eine wilde, langhaarige Weise wird als die erste Ode an den Yogi der Vedischen Zeit angesehen. Diese Einsiedlerin ist schmutzig und nackt, fliegt über den Himmel, lebt im Einklang mit der Natur und vollkommen jenseits der menschlichen Kultur. Sie ist ein wahrhaft wildes Kind. Yogis haben sich schon vor langer, langer Zeit von ihrer Kultur abgewandt und haben ihre Wildheit zurückerobert.
Die meisten Menschen würden, wenn man sie auffordert den Begriff ‘Wildheit’ zu beschreiben, negative Begriffe verwenden wie “außer Kontrolle”, “unkultiviert”, ‘‘nicht zu bändigen”, oder “egozentrisch”. Die Wilden sind ungezähmt und werden von den meisten Menschen als nicht nützlich betrachtet. Ein wildes Pferd ist nicht nützlich, bis es gezähmt, dressiert, gesattelt und aufgezäumt werden kann (oder zu Pferdeburgern verarbeitet). Eine Wildblumenwiese ist nicht nützlich, bis sie umzäunt, bestellt, gedüngt, mit Monokulturen bewirtschaftet, gespritzt, abgeerntet und eingelagert werden kann. Ein wild rauschender Fluss ist nicht nützlich, bis er gestaut, abgeleitet, in Flaschen abgefüllt, elektrifiziert, und in ein stehendes Gewässer verwandelt werden kann. Wild wird mit “nicht wertvoll” gleichgesetzt, während ‘zahm’ mit ‘wertvoll’ gleichgesetzt wird. Die Natur spielt nur eine untergeordnete Rolle dabei, die Rohstoffe zu liefern um menschliches Begehren und die menschliche Gier zu befriedigen. Aber unsere Gier ist unersättlich und die Rohstoffe gehen zu Neige. Die Wilden werden als Plage angesehen und zur Zielscheibe für Killer. Die Menschen sehen sich als diejenigen, die den Wert aus Wäldern, Erde, Wasser, Öl und Gas sowie den Fischen, Walen, Delphinen, Pferden, Elefanten, Bären, Tigern, Löwen, Eichhörnchen, Kaninchen und allen anderen Lebewesen der Erde herausziehen. Statt das Leben mit ihnen zusammen zu zelebrieren, prüfen wir ihren Niedergang, und wahrscheinlich auch unseren eigenen.
Die Menschen zerstören den Samen der Wildheit in sich selbst, der dem Leben seinen Saft gibt – seinen ganz speziellen Geschmack. Im Schnellverfahren zerstören Menschen Ökosysteme und Diversität, und eilen dabei fröhlich in ein Armageddon der Milde, des Glatten.
Der Yogi spürt, dass er auch ein Teil der Welt und der gesamten Schöpfung ist. Für den Yogi ist die Definition von wild frei, kreativ, robust, und meditativ, im Einklang mit allem, was die Natur ausmacht. Dieses Gefühl ist Teil unseres ursprünglichen Zustandes, welcher verdorben wird durch eine Kultur, die die Welt als ausbeutbar betrachtet. Im sumerischen Giglamesch-Epos, einem frühen Werk der Weltliteratur, lernen wir eine urmenschliche Kreatur namens Enkidu kennen, die an den Brüsten der Tiere säugt und mit ihnen auf den Weiden grast. Jäger stoßen auf Enkidu, als er den Tieren, die in eine Falle geraten waren, dabei half, sich zu befreien. Die Geschichten über diesen Wilden, der mit allen Kreaturen sprechen kann, faszinieren König Gilgamesch, der sich daraufhin mit Enkidu anzufreunden, ihn zu verführen, anzuheuern und zu erziehen beginnt. Es ist eine traurige Geschichte darüber, wie jeder von uns die Verbindung zur Natur und der ursprünglichen Welt verloren hat. Unsere eigene Wildheit ist ein verlorener Schatz, der um jeden Preis wiedergefunden werden muss.
Als Enkidu stirbt, rezitiert Gilgamesch folgendes Klagelied für den Urmenschen:
Enkidu…deine Mutter ist eine Gazelle, und… dein Vater, der dich erschuf, ein wilder Esel. [Du wurdest] aufgezogen von Kreaturen mit Schwänzen, und von Tieren der Wildnis, mit allem, was dazugehört. Die Wege, die hinauf und hinab führen zum Zedernwald, sie alle trauern um dich: Tag und Nacht findet das Weinen kein Ende.
—Tafel VIII des Gilgamesch-Epos
Die ganze Welt trauerte über das Ableben des Enkidu, sogar die Bäume und die Wege. Ein Schatz war verloren gegangen – die Verbindung des Menschen zum Rest der Schöpfung. Die yogischen Helden unserer Zeit verwandelnsich täglich, täglich nehmen sie die vielfältigen Formen der Schöpfung an, um sich wieder auszurichten mit der Kraft der Schöpfung und um das wieder zu finden, was verloren ging – unsere Wildheit.
November 2015 – David Life
Copyright Deutsche Übersetzung: Jivamukti Berlin GmbH
Die Englische Originalfassung findet sich hier: https://jivamuktiyoga.com/teachings/focus-of-the-month/p/wildness
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team