Lass’ folgende Vorstellung zu: Du sagst jedem, den Du siehst, „Liebe mich.“
Natürlich tust du dies nicht laut, ansonsten ruft noch jemand die Polizei. Dennoch denk’ darüber nach, über diesen immensen Drang in uns, uns zu verbinden. Warum nicht zu demjenigen werden, der unentwegt mit einem Vollmond in beiden Augen das sagt, wofür jeder andere in der Welt sterben würde, es zu hören?
Hafiz
Warum nicht anderen zuerst geben, was du selbst am meisten begehrst? Das Leben bietet uns zahlreiche Gelegenheiten, uns selbst in anderen zu sehen. Wenn wir in jemandes Augen sehen, unsere Spiegelung sehen und diesen anderen bitten „liebe mich“, haben wir uns in das Gebiet des Selbst gewagt. Um einen sicheren Stand in dieser Einstellung zu bekommen, muss man seinen Egoismus und seine Selbstabscheu ablegen. Liebe ist nicht etwas, was du tun kannst oder etwas, was du geben kannst; sie ist all-inclusive. Du kannst nicht jemanden oder etwas lieben – Liebe ist zu groß, als dass sie von diesem „du“ kontrolliert werden könnte. Liebe besitzt niemanden, niemand besitzt die Liebe. Du kannst nur Liebe selbst sein.
Wenn du dir die Zeit nimmst, dich still neben jemanden zu setzen, ihr seid beide still und nah genug, so dass du in die Augen dieser anderen Person sehen kannst, wirst du dein Spiegelbild sehen. Wir spiegeln uns gegenseitig. Es bedarf einer gewissen Menge Mutes, so etwas zu tun – es ist so intim. Selbst mit jemandem, den man kennt oder als Freund bezeichnet, ist es für die meisten von uns unangenehm, sich so nahe zu kommen. Natürlich gibt es Zeiten und Situationen, in denen diese Art von Intimität als passend wahrgenommen wird. Meistens findet dies zwischen Müttern und ihren Babys statt, und bei Liebespaaren, wenn sie sich kennenlernen und anfangs oft viel Zeit miteinander verbringen in dieser Art wiederspiegelnden Mondleuchtens. Aber dies ist sicherlich nicht die übliche, tägliche Praxis für die meisten von uns. Wir sind entweder viel zu sehr beschäftigt, als dass wir uns damit befassen können, die anderen in unserem Alltag näher anzuschauen, oder fürchten uns vor den möglichen Konsequenzen, und stattdessen suchen wir Wege, um Interaktion mit den meisten Menschen zu vermeiden, denen wir auf täglicher, wöchentlicher Basis oder während unseres ganzen Lebens begegnen. War dies schon immer so? Ist dies ein natürlicher Weg zu leben?
Manche Menschen sagen, dass es nur zwei Arten von Lebewesen auf der Welt gebe: Das Raubtier und das Beutetier. Sie ziehen Parallelen mit wilden Tieren und stellen heraus, dass Raubtiere niemals jemand anderem direkt in die Augen sehen, jedenfalls solange nicht, bis sie denjenigen zum Kampf herausfordern, oder das Tier, das sie fressen wollen, hypnotisieren und ihm Angst machen. Pflanzenfressende Tiere hingegen haben große Augen und sind stets auf der Hut vor Feinden. Viele Menschen bezeichnen sich selbst als Raubtiere, weil sie davon überzeugt sind, dass dies die bessere Option sei. Natürlich bin ich nicht dieser Meinung, aber ich möchte sagen, dass es hilft, diese für einige Menschen wichtige Einstellung zur Kenntnis zu nehmen um die Angst und Paranoia, die unsere soziale Kommunikation beeinflussen, zu verstehen. Gesellschaftliche Konditionierung kann tiefsitzend sein, die gute Nachricht ist aber, dass Gelerntes auch wieder verlernt werden kann.
Der Philosoph Ken Wilber sagt, dass allgemein gesprochen Männer und Frauen biologisch unter dem Einfluss zweier verschiedener Chemikalien stehen und dass über viele tausende von Jahren unsere patriarchische-fleischessende-militärische und auf Macht basierte Kultur dies für ihre Vorteile in Bereichen der Ausbeutung ausgenutzt hat. Testosteron drückt sich schlimmstenfalls als sexuelle Aggression, Manipulation und Gewalt aus. Die zugehörige Beeinflussung ist Oxytozin, ein Hormon, das starke Gefühle von Bindung, Pflege, Festhalten und Berühren erzeugt. Die meisten von uns (zumindestens jene, die diesen Aufsatz lesen) leben nicht in einer Welt, in der sie ständig von einem Angreifer gejagt werden und um ihr Leben rennen und sich im Überlebenskampf mühen müssen. Jedoch verhalten sich viele Männer und Frauen, als wäre dies der Fall. In der spirituellen Praxis, suchend nach Entwicklung, erforschen wir andere Wege, um uns miteinander zu verbinden, und dabei finden wir noch zusätzliche Möglichkeiten in uns selbst. Vielleicht zeigt Yoga manchen Männern die Möglichkeit, eine Art Schamane zu werden, der sich seiner femininen Seite zuwendet und dadurch Wege findet, weniger wettbewerbsorientiert und aggressiv gegenüber anderen zu sein. Vielleicht hilft Yoga Frauen, mehr Furchtlosigkeit und Selbstbewusstsein zu entwickeln, ohne Kompromisse bei der unterstützenden Seite einzugehen. Yoga kann uns allen helfen, uns entspannter und ungezwungener mit uns selbst und anderen zu fühlen.
Ein spirituell Suchender ist jemand, der sich selbst finden will. Wenn wir das spirituelle Abenteuer eingehen wollen, einem anderen in die Augen zu sehen und uns dabei wohl zu fühlen, ohne irgendwelche anderen Motive außer der puren Wahrnehmung des Seins, können wir mit verwandten Seelen anfangen – anderen Yogapraktizierenden in geschützten und heiligen Yogaräumen, einem Ort also, der extra für die Erforschung dieser Fragen uns offen ist. Die Herausforderung ist die folgende: Sich selbst in anderen zu sehen – so tief hineinsehen, dass das Anderssein verschwindet – dass nur das Selbst bleibt, die Liebe selbst.
Die Yogaphilosophie beschreibt, dass die Welt eine Projektion unseres Verstandes ist – mit allen Vor- und Nachteilen. Wenn du negative Gedanken in deinem Kopf hast, siehst du die Negativität anderer. Wir sollten uns daher erinnern, dass das Ansammeln negativer Gedanken in unserem Geist optional ist, und uns stattdessen dafür entscheiden, uns mit positiven Gedanken zu verbinden. Dann würden diese positiven Gedanken von uns aus in die Welt ausstrahlen und alle anderen Lebewesen beeinflussen, die wir „sehen“. Letztlich werden wir durch diese Praxis erkennen, dass es gar keine „Anderen“ gibt, und dies ist der Punkt, an dem die Erkenntnis des Selbst eintritt.
Wir alle wollen geliebt werden, wir wollen, dass Leute uns mögen, wir wollen anerkannt werden, und wir wollen nicht ignoriert werden oder uns bedeutungslos fühlen. Ein Yogi kennt diese Wahrheit, dass alle Lebewesen bedeutsam sind, und wenn du dich traust, dich zu kümmern, anderen entgegenzutreten, um der puren Liebe willen, mit dieser süßen Mondsprache, dann wird es Dich und den anderen verwandeln.
– Sharon Gannon
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team