Vor tausenden von Jahren lud der Buddha, um seine Schüler zur Erkenntnis darüber ermutigen, wie kostbar ihr Leben sei, dazu ein, sich einen weiten, tiefen Ozean vorzustellen, an dessen Oberfläche ein goldener Schwimmreifen treibt. Der Buddha fragte dann: „Wie außergewöhnlich wäre es für eine Schildkröte, die am Meeresgrund lebt, ihren Kopf genau im richtigen Moment durch die Öffnung dieses goldenen Schwimmreifens zu stecken, wenn sie zum Atmen an die Oberfläche kommt?“ Die Schüler antworteten einstimmig: „Das wäre in der Tat sehr außergewöhnlich.“
Das Leben ist so außergewöhnlich und wertvoll. Es ist so außergewöhnlich und wertvoll, dass wir es nicht verschwenden wollen. Der Vers aus dem „Guru Ashtakam“ ruft dazu auf, unser Leben nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Wenn wir diesen Vers singen, umarmen wir das weltliche Leben und die Sehnsüchte, die unser menschliches Dasein begleiten.: ein gesunder Körper; ein liebender Partner; haufenweise Geld, um unsere Miete oder Hypothek zu bezahlen und Tätigkeiten nachzugehen, die uns Freude bringen; eine erfolgreiche Karriere; Ansehen in unserem sozialen Umfeld; Wissen, das nicht nur auf Büchern basiert, sondern auch auf Erfahrungen. Dieses Gebet gibt uns die Erlaubnis, uns an all das zu erinnern und es ohne Wertung oder Härte akzeptieren – aber es impliziert auch eine Warnung.
Wenn wir uns ständig damit beschäftigen, irgendetwas zu erwerben und erreichen, kommt und geht all das, ohne dass wir wahrhaftig offen sind für den Lernprozess, die Praxis, die Veränderung – was ist dann der Nutzen von all dem, was wir erlangt haben? Ohne den Fokus des Geistes darauf, „das Leben Anderer zu erheben“ wie meine liebe Lehrerin Sharon Gannon sagen würde, und ohne uns selbst zu erlauben, überwältigt zu werden – von Demut, Hingabe und einem Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein als unserem selbst – einer Abstammung oder Gemeinschaft, die wir wertschätzen und feiern können – was nutzt dann all das, was wir erlangt haben? Wozu das alles – tatah kim?
Wir alle führen ein sehr hektisches Leben. Das kann sich oftmals anfühlen wie eine ziellose Wanderung, ohne Fokus oder Streben. Das Sanskrit-Wort samsara beschreibt dieses Gefühl. Es bedeutet „gleiche Tätigkeit“ immer wieder, Leben für Leben. (sam bedeutet „gleich“, sara bedeutet „Tätigkeit/Handlung“). Es fühlt sich so an, als würde man am Meeresgrund feststecken, in den unteren Bereichen des Daseins, unfähig zu sehen, wohin wir gehen. Es wird gesagt, dass Demut und Hingabe wie die zwei Ruder von sadhana (bewusste spirituelle Praxis) funktionieren, die den Schüler über den Ozean von samsara tragen.
Demut erfordert das Verständnis, dass alles im Fluss ist, dass Dinge, die wir erwerben und erlangen, kommen und gehen. Deshalb erlaubt uns Demut, die Vergänglichkeit zu umarmen und offen zu bleiben gegenüber der Zwangsläufigkeit von Veränderung. Demut zerschneidet unseren Widerstand und unseren verrückten Zwang, in einer geschützten Blase zu bleiben, wo wir nur genau das bekommen, was wir wollen, wo das Leben genau nach unseren Vorstellungen abläuft. Demut macht uns so durchlässig, dass wir uns im Fluss bewegen können und für das Leben und seine Unberechenbarkeit antreten. Demut gewährt uns die Offenheit und den Mut, uns in eine Richtung zu bewegen, die sich zielgerichtet anfühlt.
Sobald wir uns zielgerichtet bewegen, beginnen wir unweigerlich, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas Größerem als uns selbst wahrzunehmen. Das Englische Wort humility wird aus dem Lateinischen humus hergeleitet, was Erde, Grund, Boden heißt. Wenn wir unsere Stirn auf die Erde platzieren, auf den Boden vor den Altar, zu den Füßen eines Lehrers, wenn wir uns verbeugen vor den Gegebenheiten unseres Lebens, bieten wir demütig etwas von uns selbst und erkennen unser Bedürfnis zu sein an – ein Instrument zu sein, von Nutzen zu sein, Teil einer Gemeinschaft von Männern und Frauen zu sein, die die Erde ehren, das Leben feiern und ihr Leben darauf ausgerichtet haben Methoden zu praktizieren und zu teilen, die uns vom ziellosen Wandern abhalten werden, auf der Suche nach etwas, was sich nie einlösen wird: dem perfekten Körper, dem perfekten Liebhaber, der perfekten Karriere, dem perfekten Haus, der perfekten Wertanlage.
Ein Guru ist all das, was das übliche Missverständnis (gu wird auch mit Unwissenheit oder Ingoranz übersetzt) beseitigt (ru in Sanskrit). Wenn wir uns selbst hingeben, zu erkennen, dass unsere Lebenserfahrungen – die Geburt eines Kindes, der Verlust eines Jobs – unsere Verwirrung bereinigen können, unser Guru sein können, werden wir von der ergreifenden Klarheit ergriffen, wie wertvoll und außergewöhnlich das Leben ist, das wir mit jedem fühlenden Wesen teilen.
Die Praktiken des Yoga sind konzipiert, Demut zu fördern, indem sie uns ermutigen, Wohlwollen, Anteilnahme, Verbundenheit und Aufnahmebereitschaft zu pflegen, was auch immer in unserem Leben gerade passiert. Durch die Praxis wird unsere Hingabe an alles, was uns diese Richtung einhalten und offen bleiben lässt, ganz von selbst aus dem Inneren heraus entstehen und unser Verständnis dafür verstärken, dass ein gut gelebtes Leben ein Leben ist, das uns mit etwas Größerem als uns selbst in Berührung bringt und uns erlaubt, über uns selbst hinauszuwachsen. Diese Vorahnung kann die eingeschränkte und festgefahrene Sicht, die wir von uns selbst, von anderen und der ganzen Welt haben, aufbrechen. Solch ein Leben ist außergewöhnlich und wertvoll. Solch ein Leben wird sich in der Tat niemals überflüssig anfühlen.
– Rima Rani Rabbath
shariram surupam tatha va kalatram yashashcharu chitram dhanam merutulyam�manashchenna lagnam guroranghri-padme tatah kim tatah kim tatah kim tatah kim Auch wenn du gut aussiehst, einen tollen Liebhaber, großen Ruhm und Berge von Geld hast, wenn du nicht in der Lage bist, dich vor den Füßen deines Lehrers zu verbeugen – wozu das alles? Wozu das alles? Wozu das alles? Shri Adi Shankaracharya / Guru Ashtakam
Copyright Deutsche Übersetzung: Jivamukti Berlin GmbH. Die Englische Originalfassung findet sich unter https://jivamuktiyoga.com/focus/
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team