“Ich bin im ganzen Universum zuhause.“
-Swami Nirmalananda, der “Anarchisten-Swami”, der in Frieden tief in den wilden Wäldern von Süd-Indien lebte
Tompkins Square Park liegt ganz in der Nähe, wo ich wohne, an der 7th Street in der Lower East Side von NYC. In der Mitte des Parks gibt es den berühmten Baum, unter dem Bhaktivedanta Swami Prabhupada in den 1960er Jahren nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten das erste mal das Hare-Krishna-Mantra chantete. Man kann dort immer viele Tauben und andere kleinere Vögel sehen, wie sie sich um den Stamm dieses Baumes versammeln, manchmal mehrere hunderte von ihnen. Als ich eines Tages einmal auf den Baum zuging, sah ich wie viele Vögel zu Fuß um den Baum gingen und leise auf dem Boden herumpickten. Eine Gruppe von drei, vier Kindern stürzte schreiend und lachend an mir vorbei auf die Vögel zu. Sie liefen in Höchstgeschwindigkeit geradezu in die friedliche Demonstration der Vögel hinein. Natürlich flogen die Vögel sofort alarmiert und verängstigt auf, umkreisten den Baum und landeten dann wieder, diesmal an anderer Stelle nicht weit entfernt. Die Kinder rannten gleich weiter in ihre Richtung mit der gleichen Absicht, die Vögel zu ärgern und Chaos zu verursachen. Ich schaute mich um, um die zu sehen, die ich ich für die Eltern der Kinder hielt. Sie kicherten und sagten: “Sie waren den ganzen Tag in der Schule eingepfercht. Wie kann man ihnen böse sein, dass sie nach der Schule etwas wild werden wollen?”
Ist Wildheit wirklich gleichbedeutend mit der Freiheit zu tun, was immer man will, und an wen oder was man will, wann immer man will? Entgegen der landläufigen Meinung, ist “wild und frei zu sein” nicht gleichbedeutend damit, egoistisch, chaotisch und unorganisiert zu sein. Betrachtet man wilde Wesen in einer wilden Umgebung, wird man sehen, dass eine geordnete Koexistenz zwischen diesen wilden Wesen die Regel ist. Wild zu sein heißt dort anarchistisch zu sein, wo man seine Handlungen von dem essentiellen, transzendentalen Selbst ableiten kann. Dieses Selbst ist das Gleiche in allen Wesen. Es ist das, was uns alle zusammenhält und uns alle miteinander verbindet. Ein Anarchist zu sein bedeutet, sich von diesem Selbst führen zu lassen und sein Leben so zu leben, dass man mit allem, was man tut, das Leben der anderen verbessert, ja sogar die Welt und auch das weitere Universum verbessert. Ein Anarchist zu sein bedeutet, dass man sich selbst als eins mit allem Leben erkennt – mit allen Tieren, Pflanzen, Wasser, sogar mit der Sonne, dem Mond und den Sternen. Die Gesetze, welche das höhere Selbst diktiert, sind die natürlichen harmonischen Gesetze der Liebe. Das höhere Selbst ist in den Yoga-Textenbeschrieben als Satchidananda-ultimative Existenz, Wissen und Glückseligkeit – diese Freude ist unsere wahre Natur.
Normale zivilisierte Menschen sind leider oft weit entfernt von der tiefen Freude, die es macht, ein wildes, freies und vollständig verantwortungsvolles Leben zu führen. Stattdessen leben sie in Angst – Angst vor Anderen. Deshalb gibt es Regierungen mit Gesetzen und Militärs und Polizei, um die Leute vor den anderen Leuten zu schützen; gemeint sind die menschlichen Leute. Denn natürlich können die von den Menschen gemachten Gesetze nicht von den wilden Tieren, wie Wölfen oder Bären, gelesen werden. Denn sie sind ja nicht in einer Sprache geschrieben, die diese wilden Wesen verstehen können. Gesetze sind nur für die menschlichen Wesen gemacht, die die universellen Gesetze der Natur vergessen haben. Ein Yogi ist dagegen jemand, der versucht, sich wegzubewegen von den Gesetzen des zivilisierten Lebens, welche im Grunde nur dafür geschaffen sind, die Ausbeutung anderer zu rechtfertigen. Stattdessen versucht er, nach den Gesetzen der Natur zu leben. Dieser Weg der Entsagung bedarf Selbstdisziplin und führt dazu, befreit zu werden von den von Menschen geschaffenen Beschränkungen, welche des höhere Selbst nur beschränken. Oder wie der Dichter Gary Snyder sagt: “Du musst dich zunächst überhaupt mal den Weg machen, bevor du dich umdrehen und in die Freiheit der Wildnis gehen kannst.”
Der Yogaschüler durchläuft einen tiefgreifenden Transformationprozess, wenn er sich mit den Yogapraktiken beschäftigt. Er durchmacht eine dramatische Alchemie, welche die Person von einem kultivierten, zivilisierten, hypnotisierten Roboter in ein kosmisches, wildes und freies Wesen verwandelt. Indem er all die oberflächlichen, künstlichen Beschränkungen fallen lässt, die ihm unsere Kultur in dem Versuch, ihn zu zähmen und zu urbanisieren, auferlegt hat, kommt der Yogi in die Lage, sein Wildheit aus seinem tiefsten Inneren heraus zurückzufordern. Alle unsere menschlichen Errungenschaften sind nur winzige Reflexionen, welche wir aufgelesen haben in einen flüchtigen Blick auf die große Intelligenz und die Ordnungsprinzipien, welche der freien Wildnis des Universums inhärent sind. Vielleicht sollten wir alle viel bescheidener sein in unseren Beziehung zu dem, was wild ist, statt eine Haltung der Arroganz und Dominanz anzunehmen und andere nur auszunutzen und zu beherrschen.
Jemand, der sich als Yogi selbst erkannt hat, läßt sich nicht einschränken von den falschen Zäunen und Abgrenzungen, die konstruiert wurden von all den voreingenommen Köpfe, die immer nur darauf beharren wollen, dass es überall Unterschiede gibt. Ein wahrer Yogi hat eine Gleichmut des Geistes und ist in der Lage, wie es die Bhagavad Gita beschreibt, ein Klumpen Lehm, einen Stein oder ein Goldnugget als dassselbe wahrzunehmen (BG VI.8). Wenn die Fesseln von Religion, Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Speziesismus gebrochen sind, werden wir freigelassen von einer tausendjährigen Haftstrafe und in die Lage versetzt, uns als Cosmopolit, als Bürger des Kosmos, frei zu bewegen, ohne länger stolz zu sein auf die Dinge, die uns voneinander trennen, wie die beschränkenden Traditionen von Sprache, Geschlecht, Kleidung und Ernährungsweise. Ein Yogi bewegt sich bequem wie ein freier Geist, geht leicht durch Wände, seien sie physisch erbaut oder geistig konstruiert. Wenn man wirklich mit Freude erfüllt ist, können einen keine Grenzen aufhalten. Wir leben als Freund aller, unabhängig – abhängig von niemandem im Besonderen – weil wir alle unsere Nahrung finden in dem ewig fließenden Brunnen der uns alle nährt: Gottes strahlende Liebe. Ein Yogi lebt wild im Licht der Liebe.
-Sharon Gannon
Deutsche Übersetzung © Jivamukti Berlin GmbH (JYB-Lehrer Chris Johns); englische Originalfassung unter https://jivamuktiyoga.com/focus/focus.jsp )
Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team