Jivamukti Yoga Fokus des Monats Dezember 2011: Wo geht sie hin des Nachts?

by Sharon Gannon |
December, 2011

Oben auf dem Dach, klick, klick, klick, runter durch den Schornstein kommt er, der gute alte Weihnachtsmann. Niemand sieht ihn kommen, niemand sieht ihn gehen. Aber die Geschenke, die er hinterließ, sind der Beweis, dass er da war.

 

Es gibt drei Bewusstseinsstadien, welche der Mensch während jedes 24-Stunden Zykluses eines Tages durchläuft: Wachsein, Träumen und Tiefschlaf. Aber es gibt ein weiteres viertes Bewusstseinstadium, das nur den fortgeschritteneren Yogis bekannt ist. Es wird Turiyagenannt und ist das Stadium von Samadhi, man könnte auch sagen Überbewusstein. Jeder von uns hat sein Bewusstsein, wenn er wach ist. Aber wenn wir abends schlafen gehen, sagt man gemeinhin, dass wir unser Bewusstsein verlieren. Wenn wir dann früh wieder aufwachen, erinnern wir uns oft an unsere Träume, aber niemals können wir uns an die Tiefschlafphasen erinnern. Trotzdem ist es aber so, dass – wenn wir einmal keine Tiefschlafphasen in  der Nacht haben – dass wir uns dann am nächsten Morgen überhaupt nicht erholt und ausgeruht fühlen. Wissenschaftliche Studien über Schlafentzug zeigen, dass der Mensch ernsthaft krank wird und schlussendlich davon sterben kann, wenn man es ihm nicht erlaubt, Tiefschlafphasen zu erleben. Es ist doch eigentlich interessant, dass es so wichtig für uns ist, dass wir jede Nacht Zeit im Tiefschlaf verbringen, in einem Bewusstseinstadium also, an das wir uns danach überhaupt nicht erinnern können.

 

Das Sanskrit-Wort „Kundalini“ heißt soviel wie eine zusammengerollte Schlange. Kundalini ist unser Bewusstsein bzw. unsere Bewusstheit, unser Fähigkeit, zu wissen, zu verstehen, uns selbst und andere wahrzunehmen, Dingen einen Sinn zu geben und überhaupt „1 und 1 zusammenzählen“ zu können. Man sagt, dass Kundalini bei normalen Menschen die meiste Zeit im untersten Chakra vor sich hin schlummert. Diese Gegend wird dann zu Kundalini’s gesamter Welt: Die profane Welt des alltäglichen Kampfs des Menschen ums Ãœberleben: Essen, schlafen, arbeiten usw. Aber insgeheim gibt es nichts, was Kundalini sich mehr wünschte, als wiedervereinigt zu werden mit ihrem geliebten Shiva, der im Kronenchakra ganz oben am Kopf residiert. Aber diese Wiedervereinigung gestaltet sich schwierig, weil Kundalini so lange schon eingesperrt ist von ihrem Gefängniswärter: Unserem eigenen, allmächtigen Ego. Kundalini ist wunderschön, intelligent und äußerst fähig, sie ist satyam, shivam, sundaram – Wahrheit, Glückseligkeit und Schönheit. Aber wie viele Frauen verhüllt sie oft ihre wahre Form und ihre wahren Fähigkeiten und erscheint uns manchmal fast sogar schon dumm – all das nur, um ja nicht zu intelligent zu erscheinen und ja nicht das allzu starke Ego herauszufordern.

 

Und gleichwohl: Wenn wir es uns näher betrachten unter dem unfehlbaren Licht unseres Urteilsvermögens, dann verblassen die Eigenschaften unsere Egos neben der gelassenen Schönheit der mit Glückseligkeit gefüllten, unsterblichen Maheshvara, wie  Kundalini auch genannt wird. Denn das Ego hat etwas, mit dem  Shiva sich niemals rühmen würde: Ein nachdenkliches Gemüt, ein mit fast unendlichen Variationen von Emotionen gefülltes Herz und ein festes Bekenntnis zu der Zeit, in ihrer Ausprägung von Vergangenheit, Gegenwart und zukünftigen Möglichkeiten. Mit dem Ego verheiratet zu sein, sichert uns also einen sterblichen Trip: Das Versprechen des Abenteuers ist ausreichend, um die meisten Seelen zu verführen, die große Möglichkeit der Unsterblichkeit hinzuwerfen und stattdessen an Board des Dampfers, des Zuges, des Busses oder des glänzenden Motorrads zu steigen, das fertig da steht, loszufahren. Es hat sogar schon unseren Namen dranstehen und einen maßgeschneiderten Helm bereit. Als ob das uns wirklich beschützen könnte auf den gefährlichen Straßen des Lebens.

 

Dem Charme des Ego zu erliegen und unserem Ego zu erlauben, unser Leben zu regieren, kann uns süchtig machen. Die meisten Ego-Abhängigen bleiben für Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Leben von dem Versprechen des Ego bezaubert. Aber Gott sei Dank gibt es auch Atempausen von den dauernden Beanspruchungen des Ego. Und es ist sicher, dass Kundalini sich voller Vorfreude heimlich auf diese Atempausen freut. Und glücklicherweise kommt diese Entlastung in der Regel sogar täglich: Jede Nacht, wenn das Ego sich schlafen legt, kann sich Kundalini still und leise entrollen und von ihrem Ruheplatz an der Wurzel des Baums beständig durch den zentralen Energiekanal aufsteigen, um sich mit ihrem geliebten Shiva oben auf dem Dach zu vereinigen. Gewöhnlich steigt sie sogar mehre Male während einer Nacht derart auf und ab. Und charakteristisch für ihre anmütige Natur ist es, dass sie auf ihrem Weg hoch und runter zu ihrem Ziel, Pausen einlegt, um leise zu uns in der Form von Träumen zu flüstern oder magischen Staub zu verstreuen, um uns sanft zu helfen, unsere unerfüllten Sehnsüchte zu erfüllen, welche sie nur zu gut kennt und die in jedem unserer verschiedenen Lotuschakren leben. Aber sobald der Tag dann wieder beginnt, verschwindet Kundalinia dann auch ganz treu wieder in ihrem Wohnsitz im untersten Chakra. Und das Ego bekommt nie etwas mit von ihren nächtlichen Rendezvous mit ihrem Liebhaber Shiva.

 

Als normale Menschen verstecken wir uns vor unserem wahren Selbst und geben vor, dass wir unwissend, sterblich und unerleuchtet sind. Indem wir uns mit unserem Ego identifizieren, verbringen wir unser Leben damit, darauf zu bestehen, dass das alles ist, was es gibt im Leben. Der spirituelle Aspirant, also der Yogi, aber ist nicht normal, sondern er will erwachen. Yogapraktiken stimulieren dieses Erwachen von Kundalini. Meditation wird z.B. manchmal beschrieben als schlafen während man wach ist. Anstatt die Verbindung mit unserem Bewusstsein zu verlieren, was passiert, wenn wir einschlafen, bleibt der Yogi während der Meditation wachsam sitzen und versucht, Kundalini dabei zu ertappen, wie sie von ihrem zusammengerollten Ruheplatz aufsteigt zum Dach, wo Shiva mit Freude im höchsten Chakra wohnt. Sehr ähnlich zu Kindern, die an Weihnachten versuchen, wach zu bleiben, um den Weihnachtsmann zu sehen, versuchen es die Yogis, durch eine beständige Sadhana, Gott zu erblicken und sich mit ihm zu vereinigen. Manche mögen das auch als die Auslöschung des Egos ansehen. Aber für den Yogi ist das in Wirklichkeit die Freiheit für das Ego, wenn Kundalini erst einmal ihre Flügel entfaltet und zu ihrem Ziel fliegt. Samadhi ist Yoga durch Meditation. Der Yogi verbindet sein Ego mit Kundalini und ist in der Lage, auf der Schlange zu der ultimativen, alle Wünsche erfüllenden, unsterblichen, glückseligen Stille des Sahasrara Chakra zu reiten. Die ultimative Bewegung in die Stille: Turiya. Befreiung ist geschafft, alle sind befreit von Avidya (Unwissenheit). Kundalini wird nicht länger in Gefangenschaft gehalten von einem zeitfixierten, sterblichen Ego. Sondern das Ego löst sich auf im Glanz der vollbewussten Kundalini, welche auch bekannt ist as das wahre Selbst, als Atman, das kosmische Bewusstsein. Diese endgültige Transformation führt uns in die Prema-Wahrheit und die ewige kosmische Liebe.

 

— Sharon Gannon

 

Deutsche Übersetzung © Jivamukti Berlin GmbH (Christian Walter); englische Originalfassung unter https://jivamuktiyoga.com/focus/focus.jsp 

 

Translation by – Jivamukti Berlin GmbH Team