Wie bei vielen Erfahrungen im Leben können wir etwas oft erst dann vollständig begreifen, wenn wir es selbst erlebt haben. Dies gilt besonders für Momente großer Transformation. Ob es sich um freudige Ereignisse handelt (sich verlieben, ein hohes Ziel erreichen, ein neues Leben beginnen) oder um tiefgreifende Erschütterungen (eine Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod eines geliebten Menschen) – die Höhen und Tiefen nehmen uns mit auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Und obwohl wir intellektuell verstehen mögen, dass all diese Momente vergänglich und unbeständig sind, fühlen sich die schwierigen, schmerzhaften („duḥkha“) Erfahrungen oft so an, als würden sie ewig andauern, während die glücklichen, freudigen („sukha“) Augenblicke wie im Flug vergehen.
Als meine Schwester nach fast sechs Jahren Kampf gegen einen Hirntumor verstarb, überkamen mich tiefer Kummer und Trauer. Meine Therapeutin sagte zu mir: „Die Trauer wird so lange anhalten wie die Liebe.“ Mein erster Gedanke war: „Oh nein! Das bedeutet für immer!“ Doch als ich über ihre Worte nachdachte, wurde mir klar, dass Trauer und Kummer ein Spiegelbild der Freude und Liebe sind, die ich immer für sie empfinden werde. Tatsächlich sind sie zwei Hälften eines Ganzen, zwei Seiten derselben Medaille, die zusammen die Fülle der menschlichen Erfahrung ausmachen. Ohne Liebe gäbe es keine Trauer.
Mit dem Verlust meiner Schwester erkannte ich, dass ich nicht nur sie verloren hatte, sondern auch die vielen Rollen, die sie als Mentorin, Vertraute, Unterstützerin und Freundin in meinem Leben spielte. Ebenso verlor ich all die Eigenschaften, die sie in mir hervorgebracht hatte. Mit ihrem Tod verlor ich nicht nur sie, sondern auch die Person, die ich war, wenn sie bei mir war. In gewisser Weise war sie mein Guru: Sie inspirierte mich dazu, mein höchstes Potenzial zu erreichen und half mir, mich an mein wahres Selbst zu erinnern.
In Zeiten des Verlustes trauern wir nicht nur um die Person, die Beziehung, den Job oder den Traum, sondern auch um den Verlust eines Teils von uns selbst – einer Rolle, die wir durch diese Verbindung hatten: Schwester, Ehepartner, Arzt, zukünftiger Olympionike. Der erste Schock kann uns den Boden unter den Füßen wegziehen, doch mit der Zeit verblasst er. Trotzdem können alte Wunden unerwartet wieder aufbrechen, ähnlich wie saṁskāras. In solchen Momenten kann uns eine Weisheit des großen Weisen Patañjali helfen: vitarka-bādhane pratipakṣa-bhāvanam – „Wenn der Geist gestört ist, denke über das Gegenteil nach.“ Das bedeutet nicht, dass wir versuchen sollten, eine „negative“ Emotion oder einen „negativen“ Gedanken einfach durch das Gegenteil zu ersetzen. Stattdessen dürfen wir beiden Polen Raum geben, gleichzeitig zu existieren. Wir können die Trauer anerkennen und gleichzeitig die Freude sehen, die sie in sich trägt – die andere Seite derselben Medaille. Diese Lehre kann uns daran erinnern, dass Gefühle vorübergehend sind, dass Gegensätze gleichzeitig vorhanden sein können, und sie ermöglicht es uns, die eigene Wahrnehmung zu verschieben. Anstatt uns von einer Emotion überwältigen zu lassen, können wir einen Schritt zurücktreten, um beide Enden des Spektrums zu betrachten, ihre Beziehung zueinander zu verstehen und sie als Tor zu Mitgefühl für uns selbst zu nutzen. So kultivieren wir Gnade, Offenheit und Leichtigkeit. Dadurch wächst auch unsere Fähigkeit, Mitgefühl für andere zu zeigen und ihnen Raum für ihre Gefühle zu geben.
Wie können wir die Höhepunkte des Lebens wirklich wertschätzen, wenn wir nicht auch die Tiefpunkte erlebt haben? Was könnte unsere Hoffnungen und Bestrebungen nähren, wenn es keine Rückschläge gäbe? Und wie könnten wir ohne die Erfahrung von Kummer und Leid anderen gegenüber in solchen Momenten präsent und einfühlsam sein? Wie Manoramā einmal sagte: „Derjenige, der Verlust erfährt, hat viel zu gewinnen.“Aus der Trauer entsteht eine Wertschätzung für die Freude. Aus den Hindernissen des Lebens erwächst Optimismus. Aus Leid entspringt Empathie. Die Tiefe unserer Freude, die Quelle unserer Hoffnung und die Weite unseres Mitgefühls liegen womöglich in unserer Fähigkeit, Trauer und Verlust zu überwinden und zu transformieren. Und vielleicht lernen wir mit der Zeit, unseren Kummer zu akzeptieren – und beginnen sogar, ihn zu lieben, indem wir ihn als Ausdruck der Liebe in einer anderen Form erkennen.