Das Neue in der Praxis – (German)

by Jules Febre |
January, 2025

Du grenzenlose, göttliche Weisheit in mir, ich wende mich dir zu

Innere Weisheit, Intuition, Bauchgefühl all das sind verschiedene Bezeichnungen für dieselbe zugrunde liegende Intelligenz. Es handelt sich um eine Form des Wissens, die über das intellektuelle Verstehen hinausgeht – eine Art der Wahrnehmung, die uns mit den tieferen Geheimnissen des Lebens verbindet. Das ist die Weisheit des Neuen – nicht im Sinne des neuesten Trends, sondern als die Fähigkeit, in Aha-Momenten das Neue im Vertrauten zu entdecken. Sei es in einer Asana, einer Beziehung oder in uns selbst – diese tiefere Weisheit ermöglicht es uns, das wiederzuentdecken, was schon immer da war.

Sri Nisargadatta Maharaj spricht diese Offenheit in Ich Bin an und erklärt: „Denn letztendlich ist Befreiung nichts anderes, als die Freiheit zu entdecken.“ Er ermutigt uns, das Leben so zu nehmen, wie es kommt, ohne zu erwarten, dass es unseren Wünschen oder Vorstellungen entspricht. Im Yoga bedeutet das, mit jedem Element unserer Praxis vollkommen präsent zu sein – nicht als Mittel zu einem Zweck, sondern als Erfahrung an sich. Eine Asana mag sich weit oder eng anfühlen, ein Chant vielleicht ungewohnt, oder eine vertraute Meditation wird zu einer ständigen Geduldsprobe – aber all diese Empfindungen sind Teil der Praxis. Unsere Aufgabe ist es, das, was sich zeigt, anzunehmen, zu erfahren und nicht, einem Ziel nachzujagen.

Doch wenn der Reiz des Neuen nachlässt, schweift die Aufmerksamkeit oft ab, und das Lernen stagniert. Hier können uns die Werkzeuge des Yoga helfen, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren und das Gefühl von Neuheit wiederzubeleben. Betrachten wir zum Beispiel das Singen. Der Klang von Om, so einfach und wiederkehrend, wird nie langweilig, wenn wir uns ihm mit Offenheit nähern. Ob der Klang unserer eigenen Stimme oder das kollektive Summen einer Gruppe – das Singen bietet die Möglichkeit, etwas zutiefst Vertrautes auf neue Weise zu erleben. In dieser Praxis lassen wir das Bedürfnis los, etwas zu erreichen oder zu wissen, und öffnen uns der sich entfaltenden Erfahrung.

Bruce Grierson nennt diesen Prozess „Re-Wilding our attention“ – die bewusste Abkehr vom Algorithmus des modernen Lebens, der uns zu den neuesten Gadgets, Trends und Besitztümern lenkt. Auch Yoga kann einem inneren Algorithmus folgen: Wir bilden Gewohnheitsmuster oder saṃskāras, die uns dazu bringen, vertraute Pfade immer wieder zu wiederholen, auf und abseits der Matte. Wenn wir jedoch die Neuheit jedes Moments schätzen, stellen wir diese Tendenzen infrage. Wir werden aus unseren gewohnten Bahnen herausgestoßen und erhalten die Chance, uns neu zu entscheiden.

Wie Sharon Gannon während śavāsana oft sagt: „To be relaxed is to be rendered receptive.” („Entspannt zu sein bedeutet, empfänglich zu werden.“) Ebenso gilt: Aufgeschlossen zu sein bedeutet, entspannt zu sein. Indem wir uns für Neues öffnen, lösen wir mentale Spannungen auf. Wir geben das Bedürfnis auf, Ergebnisse zu kontrollieren oder Fortschritte zu erzwingen, und finden so zu einer tieferen Entspannung. Diese Befreiung betrifft nicht nur die Muskeln, sondern auch die Geschichten, die wir uns erzählen, die kulturellen Normen, an denen wir festhalten, und unsere Tendenz, uns am Vertrauten festzuklammern. Ma Bhaskarananda vom Ānanda Ashram würde sagen: „Wenn du es sehen kannst, kannst du es loslassen“. Vielleicht liegt die größte Neuheit darin, zu erkennen, woran wir all die Zeit festgehalten haben – an unseren inneren Wegen, die das Bekannte dem Unbekannten vorziehen.

Experimentiere in deiner nächsten Unterrichtsstunde mit dieser Perspektive. Nimm das Wunder deines Körpers wahr, wie er sich durch den Raum bewegt, spüre Schmerzen, die gestern noch nicht da waren, oder erkenne subtile Fortschritte und Rückschritte. Chante oder singe mit voller Offenheit: Was hörst und fühlst du? Kannst du dies tun, ohne das Wahrgenommene zu bewerten? Entdecke das Neue im Moment und erlaube dir, für das, was sich entfaltet, vollständig empfänglich zu sein. Sri Nisargadatta schließt seine Lehren mit den Worten: „Es ist alles sehr einfach und vergleichsweise leicht. Sei ernsthaft und geduldig, das ist alles“.

Teaching Tips

  • Chante in jeder Klasse denselben Chant. Ermutige die Schüler:innen, die feinen Unterschiede im Klang von Klasse zu Klasse wahrzunehmen. Die Einfachheit des Chants lädt alle ein, mitzusingen oder einfach nur zuzuhören. Lasse danach Raum für Stille, damit die Schüler:innen das neue Gefühl nach dem Singen und der Praxis wahrnehmen können.
  • Lies den Artikel „Outfox the Algorithms! One Man’s Quest to Live Absolutely Free“ von Bruce Grierson. Dieser inspirierte den Fokus des Monats. Erkunde, wie das Durchbrechen gewohnter Muster den Sinn für das Wunderbare bewahren kann, und überlege, wie du diese Idee in deinen Unterricht und deine persönliche Praxis integrieren kannst.
  • Unterrichte eine Asana, die über einen längeren Zeitraum gehalten wird. Gib den Schüler:innen Raum, um zu beobachten, wie sich die Asana im Laufe der Zeit verändert. Ermutige sie, die Veränderungen in ihren Empfindungen wahrzunehmen.
  • Gib während lang gehaltener Asanas regelmäßige Anweisungen. Lenke die Aufmerksamkeit auf verschiedene Körperbereiche, um das Gefühl der Neuartigkeit zu erhalten. Achte auf Ausgewogenheit: Gib ausreichend Details, ohne zu überfordern, und lass Raum, damit jede Anweisung wirken kann.
  • Leite eine „Lass Los“-Meditation an. Füge eine zusätzliche Dimension hinzu, indem du vorschlägst, dass sogar das Mantra losgelassen werden kann, sodass die Schüler:innen in einem Zustand offener, entspannter Empfänglichkeit verbleiben.
  • Führe eine Meditation des offenen Bewusstseins ein. Wenn du diese Technik noch nicht kennst, übe sie zunächst selbst. Tara Brach bietet eine großartige geführte Meditation auf YouTube an. Diese Methode ermutigt dazu, ganz präsent mit dem zu sein, was im Moment auftaucht.
  • Führe ein geführtes śavāsana an, das das Loslassen betont. Anstatt sich nur auf Länge oder Dehnung zu konzentrieren, leite die Schüler:innen an, den Prozess des Loslassens bewusst wahrzunehmen und zu schätzen.
  • Überlege, wie du Neuheit in deinen Unterricht einbringen kannst. Als Lehrer:innen haben wir oft das Bedürfnis, etwas Neues einzuführen, um die Schüler:innen zu beschäftigen. Wähle mit Bedacht: Es geht nicht darum, mit Tricks oder komplizierten Haltungen zu beeindrucken. Nutze stattdessen neue Sequenzen, Musik oder Techniken, um Aufmerksamkeit zu lenken und das Staunen zu fördern. Das Ziel ist es, die Erfahrung zu vertiefen, nicht zu überwältigen.
  • Lies den Text Ich Bin (I Am That), insbesondere Abschnitt 95 („Nimm das Leben, wie es kommt“ / „Accept Life As It Comes“).

 

Englisches Original: Jules Febre
Deutsche Übersetzung: Judith Quijano