Die Echtheit unserer Erfahrung – (German)

by Maria Sousa Macedo |
October, 2024

 

Wenn der Yogi in ahimsa, Gewaltlosigkeit, verankert ist, wird in seiner Gegenwart die Feindseligkeit losgelassen.

~ Übersetzung von Manorama

Wenn du aufhörst, anderen zu schaden, werden andere aufhören, dir zu schaden.

~ Kommentar von Sharon Gannon

Es war einmal ein kleines Land im Südwesten Europas, das 48 Jahre lang von einer Diktatur regiert wurde. Es war ein armes, trauriges und unterdrücktes Land, das in einen Kolonialkrieg verwickelt war und von einer politischen Polizei überwacht wurde, die alle unterdrückte, verhaftete und folterte, die sich dem Regime widersetzten. Die Rede ist von Portugal in der Zeit zwischen 1926 bis 1974, als das Land von Angst, Gewalt und Unfreiheit geprägt war.

Doch am 25. April 1974 geschah etwas Außergewöhnliches. Die jungen Militärs putschten gegen das Regime und führten das Land ohne Blutvergießen zurück in die Freiheit. Die Zivilbevölkerung ging auf die Straße, um sie zu unterstützen, und begann, den Soldaten Nelken zu schenken, die sie als Symbol des Friedensin die Mündungen der Gewehre und in ihre Uniformen steckten. Kannst du dir eine Revolution ohne Schüsse, dafür aber mit Blumen vorstellen? Kannst du dir vorstellen, dass Kinder sicher auf der Straße spielen, während das Regime fällt? In Anbetracht der jüngsten Ereignisse in der Welt scheint dies fast unmöglich.

Dieser Umbruch in Portual trägt den Namen Nelkenrevolution, hat die Welt fasziniert und inspiriert und wird von vielen als die schönste Revolution des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Warum ist das so? Warum ist sie eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration? Ich glaube, die Antwort liegt in der mitfühlenden Qualität, die spontan unsere angeborene Güte erweckt. Mahatma Gandhi sagte einmal: „Diejenigen, die sagen, dass Spiritualität mit Politik nichts zu tun hat, wissen nicht, was Spiritualität wirklich bedeute.“, und damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass es nicht möglich ist, unser kollektives Verhalten von den Grundsätzen zu trennen, die wir in unserem Herzen tragen. Wenn man sich die derzeitige Atmosphäre in der Welt anschaut, kann man genau das Gegenteil erleben, nämlich Not, da Feindseligkeit, Aggression und Gewalt gegen unsere wahre Natur gerichtet sind.

Im zweiten Kapitel der Yoga Sutras von Patañjali (Sādhana-pāda) wird dem spirituell Praktizierenden der gleiche Ratschlag durch das erste yama oder die erste Einschränkung gegeben: „ahiṁsā-pratiṣṭhāyāṁ tad-sannidhau vaira-tyāgaḥ“, PYS II:35 / „Wenn du aufhörst, anderen zu schaden, werden andere aufhören, dir zu schaden.“ Ahiṁsā ist ein Sanskritbegriff, der Gewaltlosigkeit bedeutet und positiv formuliert mit Mitgefühl übersetzt werden kann. Da es sich um ein Yama handelt, bezieht es sich auf unser Verhalten gegenüber anderen, nicht gegenüber uns selbst (das zweite Glied des Ashtanga-Systems sind die Niyamas, die sich mit dem Verhalten uns selbst gegenüber befassen) und es scheint kein Zufall zu sein, dass dies das allererste ist, die von denjenigen getan werden sollten, die danach streben, ihre wahre Natur, die Einheit, zu finden.

Es gibt eine Geschichte von einem Mann, der mit einem Priester über ein tiefgreifendes Erleuchtungserlebnis spricht. Er hatte eine Vision von Gott und das Gefühl, die Verschmelzung mit Licht und Liebe zu erleben. Von seiner Vision verzaubert, sucht der Mann einen Priester auf, um ihn zu fragen, ob seine Vision echt war. Daraufhin antwortet der Priester dem Mann mit einer Frage: Haben Sie Tiere? Und der Mann antwortete mit Ja. „Haben Sie eine Frau?“ Der Mann nickt. „Haben Sie Kinder?“ – „Ja“, sagt der Mann. „Geschwister?“ „Ja“. „Familie, Freunde, Nachbarn?“ Der Mann nickte nur. So sagte der Priester: „Die Echtheit deiner Erfahrung zeigt sich in der Freundlichkeit, die du jedem Wesen in deinem Leben entgegenbringst.“

Der äußere Ausdruck eines erwachten Herzens ist Freundlichkeit und Mitgefühl. Wenn wir offenherzig sind, leben wir aus unserem besten Selbst heraus, und das gilt auch für das Kollektiv. Um es (frei übersetzt) mit den Worten von Tara Brach zu sagen: „Eine entwickelte Gesellschaft ist in Mitgefühl verwurzelt“. Wenn wir Mitgefühl haben, wenn wir in der Lage sind, uns selbst im anderen zu sehen und etwas für den anderen zu tun, dann kommen wir der Verwirklichung näher; wir machen eine Erfahrung des höheren Selbst; wir kommen in Kontakt mit unserer angeborenen Güte und Reinheit.

Die Frage an den Yogi sollte also lauten: Wie können uns unsere Praktiken in solch turbulenten Zeiten leiten? Wie können wir uns davon befreien, in Agonie zu versinken? Unabhängig von den aktuellen Kräften der Aggression und Ignoranz gitl es, mit der Quelle verbunden bleiben, die wir wirklich sind. Indem wir uns in einer Präsenz üben, die nicht von Frustration, Wut oder Angst bestimmt ist, sondern die offen genug ist, um weiter zu sehen und von Herzen zu handeln. Das ist nicht einfach. Es ist sicherlich einfacher, dem, was in der Welt geschieht, mit unserem eigenen Zorn und Hass zu begegnen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass dies nicht die Art ist, wie sich unser Geist ausdrückt. Und das Sutra II.35 ist diesbezüglich eindeutig. Gewalt (hiṁsā), ob in ihrer mentalen, verbalen oder physischen Form, führt nur zu noch mehr Gewalt, und um sie zu beenden, muss das Gegenteil kultiviert werden: Mitgefühl.

Mitgefühl war damals im April 1974 in Portugal die Blume im Gewehr. Es ist diese Blume, die Unterschiede überbrücken und die Welt verändern kann. Erinnere dich an die Worte des Buddha und trage sie in dir: „Hass hört niemals durch Hass auf, sondern wird nur durch Liebe geheilt. Das ist das alte und ewige Gesetz“.

Teaching Tips

  • Chante das PYS II.35 und erforsche die Bedeutung der einzelnen Sanskrit-Wörter.
  • Plane mehr Zeit für die Meditationspraxis ein, indem du diese Zeit im Laufe des Monats langsam erhöhst.
  • Erforsche die Praxis der „Ja-Meditation“, indem du die Schüler:innen anleitest, die unangenehmen Gefühle und Gedanken, die sie in sich tragen, zu erkennen und zuzulassen. Dies ist eine Übung in Ehrlichkeit. Sie besteht darin, innezuhalten, wahrzunehmen, was im Inneren des Selbst ist, es zu identifizieren und sanft „Ja“ sagen zu dem, was auftaucht. Es gilt, den Raum zu spüren, der durch das Wort „Ja“ (statt „Nein“) entsteht, und vielleicht einen Vorgeschmack auf die Freiheit zu bekommen, so dass man nicht aus einem Gefühl der Unterdrückung heraus reagiert. Die Last der Welt lastet nicht auf deinen Schultern. Stattdessen kannst du in einer sanften, offenen Gegenwart ruhen.
  • Unterrichte Nadi Shodhana Pranayama (Wechselatmung) als Mittel, um beide Gehirnhälften auszugleichen. Erläutere die Bedeutung für deine Schüler:innen, indem du betonst, dass die linke Gehirnhälfte (die mit dem rechten Nasenloch zusammenhängt) eher kognitiv und linear ist, während die rechte Gehirnhälfte (linkes Nasenloch) eher sensorisch, kreativ und erweitert ist. In der rechten Gehirnhälfte entstehen ein Gefühl der Präsenz und des Mitgefühls.
  • Erkläre die fünf Kleshas (Hindernisse für den Zustand des Yoga) und untersuche ihre Auswirkungen auf das getrennte Selbst.
  • Setze den Fokus auf Sequenzen, die auf das Maṇipūra-Chakra (Solarplexus-Chakra) und das Anāhata-Chakra (Herz-Chakra) abzielen. Diese zielen in Bezug auf das Karma auf die diejenigen Menschen ab, die wir verletzt haben und diejenigen, die uns verletzt haben, und haben eine heilende Wirkung auf diese Beziehungen.
  • Teile die Lehren von Wesen, die zu einer mitfühlenderen Welt beigetragen haben. Beispiele: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Thich Nhat Hanh, Tara Brach, usw.
  • Vergiss nicht, dass das Mitgefühl alle Lebewesen einschließen sollte, auch die tierischen Wesen. Nimm dir etwas Zeit, um den Zusammenhang zwischen Ernährung und Yoga als Praxis zu erklären. Lies dazu „Yoga und Veganismus“ von Sharon Gannon.