Wenn wir das Wort Kraft hören, denken wir in der Regel zunächst an die körperliche Kraft. Der Begriff Kraft impliziert auch ein Maß an Stabilität (Sthira) und die Fähigkeit, variierendem Druck einschließlich psychischen und emotionalen Belastungen standzuhalten. Während Körperkraft gewiss nützlich ist, liegt der Schwerpunkt in diesem Sutra eher auf der psychischen, moralischen und spirituellen Kraft. Im Yogasutra II.33 (vitarka-bādhane prati-pakṣa-bhāvanam) ruft uns Patanjali dazu auf, unsere niederen Instinkte wie Gier, Eifersucht, Hass und Angst zu überwinden, indem wir sie durch gute Taten und freundliche Worte ersetzen. Möglicherweise überrascht uns anfangs, wie Entscheidungen dieser Art uns mehr Energie, Glück und innere Kraft verleihen.
Ein anderer, mit dem Wort Kraft zusammenhängender Begriff ist Macht: Darunter verstehen wir das Potential, die Energie, Dynamik und Richtung einer bestimmten Situation zu beeinflussen. Im Kontext des Yogasutra kann Macht als außergewöhnliche Wahrnehmung und übernatürliche Kräfte (Siddhis) interpretiert werden. Wir sollten niemals unterschätzen, wie wir Menschen durch die Macht der Liebe positiv beeinflussen können.
Hinter uns als globaler Gemeinschaft liegt zweifelsohne eines der eigenartigsten und herausforderndsten Jahre unseres Lebens. Viele von uns wurden mit der Zerbrechlichkeit des Lebens, mit dem Verlust unserer Liebsten und Überlebensfragen konfrontiert und haben versucht, unser Immunsystem so gut wie möglich zu stärken – ohne zu wissen, ob wir letztlich nicht doch an Covid-19 erkranken würden. In vielen Fällen verursachte die Einsamkeit psychische Probleme.
Covid-19 war und ist für uns eine außergewöhnliche Chance, die globale Verflechtung und Wechselbeziehung allen Lebens zu erkennen und Veränderungen im System vorzunehmen, die auf Mitgefühl fußen. Und doch sind Gewalt und öffentliche Unruhen, die in der ganzen Welt von Gier, Angst, Wut, Verschwörungstheorien sowie Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit angetrieben waren, nicht zum Stillstand gekommen. Die Impfpolitik und die kontinuierliche Entmenschlichung und Entmündigung der Schwächsten schaffen weiterhin zahlreiche überflüssige Hürden.
Gleichzeitig sind einzelne Held:innentaten wie die der Gemeinschaft der Sikh in Indien eine Quelle der Inspiration. Diese Menschen setzen ihr eigenes Leben dort aufs Spiel, wo das System versagt. Die Sevadar (Personen, die einen selbstlosen Dienst leisten) verwandeln Gurudwaras (Gebetsstätten der Sikh) in Sauerstoff-Langars (ein Langar ist ein kostenloses Gemeinschaftsessen in einem Gurudwara), transportieren die Kranken und verbrennen Covid-Tote. Die Sikh stehen in der Seva-Tradition (Seva ist das selbstlose Dienen) und sehen Fremde, denen sie helfen, als ihr eigen Fleisch und Blut an. Sie handeln in Einklang mit der Botschaft und Lehre der langen Abstammungslinie der Sikh-Gurus, die ihnen die Kraft gibt, rund um die Uhr und trotz unvorstellbaren Leids und unendlicher Hoffnungslosigkeit zu dienen.
Das Sutra III.24 ist eine Erweiterung des Sutra I.33 (maitrī-karuṇā-mudito-pekṣāṇāṁ sukha-duḥkha-puṇya-apuṇya-viṣayāṇāṁ bhāvanātaś citta-prasādanam). Es legt offen, dass wir durch das Kultivieren von Glück, Mitgefühl, Freude und Gleichmut verhindern, unsere Energie an Verwirrung, Hinterhältigkeit und Rache zu verschwenden. Stattdessen erlangen wir innere Ruhe. Insbesondere in widrigen Umständen wächst dank der fokussierten Energie unsere innere Kraft. Im dritten Kapitel Vibhuti Pada knüpft Patanjali an die Praxis des zweiten Kapitels Sadhana Pada an und erläutert Samyama, bestehend aus der Umsetzung der drei Übungsglieder Dharana, Dhyana und Samadhi. Indem eine Person Samyama auf Freundlichkeit und
Mitgefühl beherrscht, wird sie zur Verkörperung universeller Liebe und Freundlichkeit selbst. Jegliches Wanken verschwindet und der Mensch wird zu einem Leuchtturm für die Menschheit, wie Swami Nirmalananda es so wunderschön in seinem Werk „A Garland of Forest Flowers“ beschreibt.
Englisches Original: Yogeswari
Deutsche Übersetzung: Judith Quijano (Instagram: @quijanolanguages / Twitter: @Ju_Quijano)