Es waren einmal zwei Vögel, die auf den Ästen eines Baumes saßen. Der Vogel auf dem oberen Ast blieb ruhig und gelassen. Währenddessen wechselte der Vogel auf dem unteren Ast ständig von einem Ast zum anderen, labte sich an den Früchten des Baumes und erlebte Momente des Glücks und des Unglücks.
Der untere Vogel beneidete den oberen Vogel um seine Ruhe und versuchte, diese nachzuahmen. Doch die Versuchung, die Früchte des Baumes zu genießen, zerstörte schnell jede Hoffnung auf Ruhe.
Gelegentlich erstrahlten und glänzten die Federn des oberen Vogels im Sonnenlicht. Dann erreichte die Reflexion des Lichts den unteren Vogel und bewirkte eine wundersame Verwandlung. Der Drang, sich an den Früchten zu ergötzen, und das Schwanken zwischen Freude und Trauer lösten sich auf wie ein flüchtiger Traum. In diesem Moment fühlte sich der untere Vogel wie sein friedlicher Artgenosse oben, der Gelassenheit und Ruhe verkörperte und eins mit dem Ganzen war. Geschichte aus der Muṇḍaka Upaniṣad.
Der Vogel auf dem unteren Zweig repräsentiert den jīva, die individuelle Seele. Der anfänglich von Begierden getriebene jīva bewegt sich unaufhörlich und sucht seine Erfüllung in den vergänglichen Freuden der Welt. Durch eine Reise der Selbstentdeckung und des spirituellen Erwachens erlangt der Vogel jedoch vollständige Erkenntnis und erreicht Kaivalya, indem er sich von den Fesseln der irdischen Anhaftungen befreit. In diesem befreiten Zustand wird der Vogel ein jīvanmukta, in direkter Verbindung mit paramātman, dem ICH-BIN, dem Gott im Innern, und verkörpert ultimativen Frieden und Transzendenz.
Freiheit entsteht, wenn die Gedanken verblassen und so dem gegenwärtigen Moment der Vorrang in unserer Erfahrung gegeben wird. In dem Maße, in dem das Verlangen abnimmt, nehmen wir zunehmend die Rolle des Beobachters ein und gehen in den Bereich des Verstehens über. Durch diese Entwicklung lernen wir das große Geschenk, das uns das Leben macht, zutiefst zu schätzen. Die Vritti-Aktivität kann unser wahres Wesen verdunkeln, aber indem wir Momente des Friedens und der Freude prüfen, bekommen wir einen Blick auf das wahre Selbst, Sat-chit-ānanda, das Wahrheit-Wissen-Glückseligkeit ist. Dieser Blick auf unser wahres Selbst kann sich in Form eines treuen Vierbeiners, eines Blicks in die Sterne, eines Lächelns, eines Lauschens des Regens oder der Berührung durch die Sonne zeigen, wie bei dem Vogel auf dem unteren Ast. So erfahren wir eine wunderbare Veränderung – die Offenbarung des ātman.
Durch Erfahrungen lernen wir, das Wesen der Freiheit zu verstehen und ihr zu vertrauen. Dann wird die Abwesenheit von Gedanken zu einer beständigen Präsenz in unserem Leben. Wie Sri Patañjali in sutra 1.14 Abhyāsa rät, „wird die meditative Praxis über einen langen Zeitraum hinweg fest und natürlich etabliert, wenn man ohne Unterbrechung und mit konstanter Anstrengung, ehrfürchtiger und hingebungsvoller Energie und großer Liebe seinen Geist auf das Selbst, das ICH-BIN, fixiert“. So kommentiert es Sri Brahmananda Sarasvati (freie Übersetzung aus dem Englischen).
Bei stetiger Übung über einen langen Zeitraum hinweg wirst du feststellen, dass die Gegenwart ewig zu sein scheint.
Yogapraktiken wurden entwickelt, um uns dabei zu helfen, diese Freiheit zu entdecken und ein Gleichgewicht zwischen dem Leben in unserem Geist und der Unmittelbarkeit unserer Erfahrungen hier und jetzt herzustellen. Durch Yogapraktiken verbinden wir uns mit dem absoluten Bewusstseinsfeld. Wie ein Fluss haben wir die Wahl, in Richtung „unseres Kopfes“ zu fließen und die Illusion der Trennung, also māyā zu verstärken, oder in den weiten Ozean des Bewusstseins zu verschmelzen, die Einheit des Seins zu erfahren und ein tiefes Verständnis für die Verbundenheit aller Dinge zu erlangen.