Der große vedantische Gelehrte Adi Shankaracharya aus dem 8. Jahrhundert sagte, dass dieser Vers – im Gegensatz zu anderen in den Veden – nicht für ein Ritual bestimmt sei, sondern dass sein Zweck darin bestehe, das Licht als die Natur des Selbst oder des Atman zu offenbaren. Isha im Titel dieser Upanishad bedeutet Gott und die Wortwurzel ish steht für herrschen, regieren oder Macht haben, wie auch in dem Wort ishavara oder persönlicher Gott. Dieses Isha ist alles: Es ist pūrṇam, es ist vollkommen und durchdringt die gesamte Schöpfung, so wie Salzwasser die Ozeane oder Hitze eine vom Feuer erwärmte Metallkugel. Das Sanskrit-Wort pūrṇa bedeutet auch Kreis, eine Form, die weder Anfang noch Ende hat und in sich selbst vollständig ist.
Pūrṇam ist Adah oder Das (die Quelle der Schöpfung und unser materielles Universum). Pūrṇam ist Idam ist Dies, ebenso wie unser physischer Körper und unser Bewusstsein. Beide sind Teil von allem, was sich auf unserer Erde bewegt und atmet. Pūrṇam ist die Summe von Dem und Diesem und Es allein repräsentiert diese unermessliche, bekannte Gesamtheit.
Ram Dass, der geliebte Bhakta und Psychologe des Westens sagte einmal: „Behandle jeden, dem du begegnest, als wäre er ein verkleideter Gott“. Das war seine humorvolle Art zu sagen, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie zu sein scheinen, und dass wir bereit sein sollten, das Göttliche und Gute in Anderen zu sehen, auch wenn sie, die Erscheinungsbilder und Situationen nicht so sind, wie wir es von ihnen erwarten würden.
Wenn wir unsere Endlichkeit aufgeben, werden wir unendlich. Als ein Reporter Gandhi ji aufforderte, seine Philosophie in drei Worten zusammenzufassen, sagte er, inspiriert von der Isha Upanishad: „Verzichte und genieße“. Nur wenn wir auf alle weltliche Früchte und die Ergebnisse kurzsichtigen Gewinns oder Vergnügens verzichten, können wir den Atman als lebenden Zustand von pūrṇam wirklich genießen. Wenn wir einem konditionierten, mikroskopischen Zustand entsagen, lädt uns diese Anrufung ein, die Kraft von pūrṇam als Einheit mit allem Existierenden zu erfahren.
Könnten wir über gewöhnliche Erscheinungsbilder hinausblicken, würden wir mit yogischem Blick erkennen, wie Makrokosmos und Mikrokosmos miteinander verschmelzen und wo sich das individuelle Selbst und die universelle Seele berühren. Um diese Art von Vision zu erfahren, rät uns Patanjali, die yogischen Fähigkeiten der Unterscheidung (viveka) und der Vernunft (vichāra) zu praktizieren und zu kultivieren. Ebenso könnten wir uns folgende Frage stellen: Was ist es eigentlich, das unsere Erfahrung und unsere Existenz einschränkt?
Was trennt uns von unserer Verbindung zu pūrṇam? Sehen wir uns selbst anders als jene, denen wir begegnen? Wut, Eifersucht und Angst beruhen auf dem tief verwurzelten, falschen Verständnis der eigentlichen Vollkommenheit. Wenn wir andere schlecht behandeln oder – schlimmer noch – ihnen durch unsere Handlungen direkt oder indirekt Leid und körperlichen Schaden zufügen, ist dies nur eine Folge des Vergessens. Wir können beobachten, wie sich unsere zunehmend zersplitterten Gesellschaften dramatisch und negativ auf unseren gesamten Planeten auswirken.
Auf spiritueller und materieller Ebene stopfen wir unser größeres Selbst in eine falsche und zerbrechliche Schale der falschen Identifikation. Die Praxis soll uns aufrütteln und wachrütteln. Sie sollte nicht als Abgötterei, Theater oder lebhafte Phantasie praktiziert werden. Vielmehr lädt uns der Vers ein, Yoga als eine Wissenschaft der Selbstentdeckung zu praktizieren. Er ermutigt uns, unsere Praxis wie ein Teleskop zu benutzen, damit uns letztlich unsere eigene wahre Natur offenbart wird. Wir müssen nicht unbedingt nach Indien reisen, um sie zu finden, doch wir können damit beginnen, uns mit dem zu transformieren, was in unserer Nähe ist. Sharon schreibt, dass wir – selbst in unserem eigenen täglichen Mikrokosmos, wenn wir uns zum Beispiel zum Essen hinsetzen – einen großen Einfluss auf das Leben Anderer und den Makrokosmos als Ganzes haben können.
Die Praktiken des Yoga sind gleichzeitig ein altes und ein modernes Gegenmittel gegen das große Gift des Vergessens. Dazu gehören ganz einfache Methoden wie das Lenken der Aufmerksamkeit auf den Atem oder eine größere Empfänglichkeit für das Bewusstsein im eigenen Körper und in der Seele. Die Yogapraxis kann uns auch spiegeln, wie bereit wir sind, uns mit pūrṇam zu verbinden. Wie sehr sind wir bereit, die Vollkommenheit als eine liebevolle Haltung zu schützen und zu bewahren? Wir können in der Yoga Asana-Praxis beginnen, uns als Bestandteil der Welt wahrzunehmen, indem wir vermehrt einen Zustand von Harmonie und Gleichgewicht herstellen.
Wenn wir pūrṇam in den Mittelpunkt stellen, können wir sogar erkennen, wie selbst unsere vermeintlichen Schwächen oder Unzulänglichkeiten in immer größere Stärke verwandelt werden können. Was unsere am wenigsten gemochte Asana ist, könnte zu unserer Lieblingsasana werden, wenn wir „unsere Wahrnehmung verschieben“ („shift our perception“) und uns für unsere Praxis entscheiden, und zwar nicht nur im breiteren Sinne, sondern auch in den kleinsten Details und Mustern, die sich durch unser tägliches Leben ziehen. Dies für uns selbst zu tun, kann uns Selbstvertrauen geben und uns helfen, positive Veränderungen vorzunehmen, die unsere Sichtweise und Wahrnehmung erweitern.
Dann gibt es nichts, was nicht pūrṇam ist. Selbst der leere Raum oder śūnya (die Leere) gilt als vollkommen, selbst unser Unglück und unsere Vergesslichkeit können sinnvoll werden und uns zur Befreiung führen, wenn wir sie in das Licht von pūrṇam stellen.
Das Leben ist genug, es ist weder zu klein noch zu groß. Es kann tröstlich sein, zu spüren, dass nichts jemals wirklich zerbrochen oder aus pūrṇam verloren werden kann. Dass wir immer wieder die Chance haben, uns neu zu verbinden, und wie Sharon und David zu sagen pflegen, uns erneut zu erinnern, um allen Wesen als pūrṇam zu dienen. Dies kann uns von der Verschiedenheit zur Einheit führen, mit einer Einladung, Unterschiede und Kreativität zu feiern und ein Fenster zu öffnen, das uns unseren einzigartigen Platz hier und jetzt zeigt.