ATEM: DER BERUHIGER DES GEISTES – (German)

by Julie Kirkpatrick |
October, 2025

Der schwankende Geist wird auch ruhig, wenn man das Ausatmen und das Anhalten des Atems übt.

Die Nachricht traf mich völlig unvorbereitet: Ein mir nahestehender Mensch war ganz plötzlich gestorben. Ich konnte kaum atmen, während die Tränen flossen und mich Schock, Trauer und Ungläubigkeit überwältigten. Ein guter Freund und Yogi nahm mich wortlos in den Arm. Er hielt mich fest und begann, in einem langsamen, gleichmäßigen, tiefen Rhythmus zu atmen. Ich begann, mit ihm zu atmen – und schon bald war mein Geist ruhig.

Wahrscheinlich haben wir alle schon Situationen erlebt, in denen unser Atemzustand sehr deutlich unseren Gemütszustand widerspiegelte: zum Beispiel Ärger durch kurze, stoßweise Atemzüge, Traurigkeit durch Schluchzen, Nervosität durch flache, schnelle Atemzüge – oder andere Gefühlszustände. Patanjali erinnert uns in diesem Sutra daran, dass bewusste Atemführung eine von vielen Techniken ist, mit der wir die Schwankungen unserer Gedanken und Gefühle beruhigen können. Mit anderen Worten: Wenn wir unser Atemmuster verändern, können wir die neuronale Aktivität im Gehirn und Nervensystem beeinflussen. Wenn sich unser Geist beruhigt hat, sind wir empfänglicher und können Klarheit erfahren.

In Jivamukti-Yoga-Vinyasa-Stunden werden wir immer wieder daran erinnert, Ujjayi-Atmung kontinuierlich zu praktizieren (üblicherweise vier Zählzeiten Einatmung, gefolgt von vier Zählzeiten Ausatmung – durch die Nase mit einem leisen, an ein Flüstern erinnernden Klang, erzeugt in der Nähe der Stimmbänder – konstant durch die ganze Praxis hindurch). Ganz gleich, welche Asanas wir üben – ob die einfachsten oder die herausforderndsten – der Atem bleibt ruhig und gleichmäßig. Das ist ein Training für den Alltag, in dem wir unter Stressbedingungen genau diese Atmung aktivieren können, um ruhig zu bleiben – und so dysfunktionale Atemmuster loszulassen, die letztlich zu Erschöpfung, Unklarheit oder innerem Ungleichgewicht führen können.

Das Atmen ist Teil des vegetativen Nervensystems – das heißt, es geschieht automatisch. Aber Atmen kann auch in den Bereich bewussten Handelns geführt werden. Bewusstes Atmen ist eine Brücke zwischen dem physischen und dem feinstofflichen Körper. Pranayama, wie in YS 1.34 erwähnt und später als eines der acht Glieder des Yoga in YS 2.29 erläutert, ist eine uralte indische Disziplin, die von den frühen Yogis entwickelt wurde. Sie befasst sich mit der Verfeinerung bewusster Atemführung, um bestimmte geistige oder emotionale Zustände zu erreichen. Pranayama-Techniken erhöhen unser Prana (Lebensenergie), verfeinern unser Nervensystem – unter anderem durch das bewusste Anhalten des Atems nach der Einatmung oder nach der Ausatmung. Pranayama wird manchmal definiert als das Verlängern, Ausdehnen, Erweitern oder Lenken von Prana. Es gibt Pranayama-Techniken in der Hatha Yoga Pradipika, Gheranda Samhita, Shiva Samhita und weiteren Schriften – und viele Arten, wie diese Praktiken je nach Lehrer:in oder Tradition vermittelt werden. Beginne mit einfachen, klaren Techniken und gib dir selbst Zeit, zu erleben, wie sie sich entwickeln. Ein wesentlicher Grundsatz beim Üben von Pranayama ist, dass man in einem Zustand von sthira (Stabilität) und sukham (Freude) sein sollte. Wenn Druck, Anspannung oder Unruhe entstehen, bist du zu weit gegangen. Mach eine Pause – und probier es an einem anderen Tag erneut.

Die Yogapraxis bietet uns die Möglichkeit, ausgeglichene Menschen zu werden. Sie erlaubt uns, Aspekte unseres Selbst ins Bewusstsein zu holen, die zuvor im Unbewussten verborgen lagen. Sie lädt uns ein, das ständige Streben und den Stress der modernen Welt loszulassen – ebenso wie die wirren Gedanken. Bewusstes Atmen ist ein Weg, das innere Chaos zu beruhigen. „Wo der Geist zur Ruhe kommt, wird auch der Atem gehalten. Wo der Atem gehalten ist, dort kommt der Geist zur Ruhe.“ – Hatha Yoga Pradipika 4.23

Teaching Tips

  1. Lies zur Vorbereitung Kapitel 6 im Jivamukti Yoga-Buch: „Prana: Die Lebenskraft befreien“ (S. 103-127).
  2. In deinen Klassen kannst du mit den Schüler:innen Folgendes üben/wiederholen:
    • Ujjayi-Atmung: Praktiziere Ujjayi im Sitzen – so, wie es auch während der Asana-Sequenz geübt werden soll. Nutze eventuell ein Metronom für den 4er-Rhythmus. Übe das einige Minuten lang, und erinnere deine Schüler:innen während der Stunde immer wieder daran. Zähle laut mit oder lade die Schüler:innen ein, innerlich mitzuzählen.
    • Kapalabhati-Kriya (Reinigungsatem): Beginne die Stunde mit einigen Runden Kapalabhati. Diese Technik wird auch als „Hampelmann für das Zwerchfell“ bezeichnet – und es ist unser Zwerchfell, das es uns ermöglicht, bewusst zu atmen. Ein starkes Zwerchfell bedeutet ein kräftiger Atem. Achte auf das Erfahrungslevel deiner Schüler:innen. Starte mit kurzen Runden (z. B. 36 Pumpbewegungen, 3 Runden) und steigere über den Monat. Gib Raum zum Nachspüren – was hat sich verändert? Erfahrene Schüler:innen können längere Runden (50–100 Pumpbewegungen) üben. Zwischen den Runden: ruhiger Ausgleichsatem. Wirkungen von Kapalabhati: reinigt die Nasengänge, stärkt das Zwerchfell, erzeugt Wärme, erhöht die Wachheit, verbessert die Konzentration. Nicht geeignet für Schwangere, Menschen mit Bluthochdruck, nach Bauchoperationen oder bei Rückenschmerzen.
    • Elemente der drei Körper / fünf Koshas, insbesondere der subtile Körper (sukshma sharira), in dem Prana, Emotionen und Intellekt beheimatet sind. Siehe dazu auch Jivamukti-Yoga-Buch, S. 44-45.
  3. Praxistipps für alle Erfahrungsstufen:
    • Resonanzatmung: Einatmen für 4-5 Sekunden (ohne Ujjayi), Ausatmen für 6-7 Sekunden. Der Atem ist ganz leise – fast unhörbar. Der Fokus liegt auf dem Punkt zwischen den Augenbrauen (drittes Auge). Diese Technik eignet sich im Sitzen, Liegen, zu Beginn von Shavasana oder für einige Minuten in Viparita Karani. Vorteile: gleicht das parasympathische und sympathische Nervensystem aus, beruhigt/reguliert, hilft bei Angst und Stress, verbessert den Vagustonus.
    • Ganzkörperatmung: In Rückenlage oder im Sitzen die Hände auf den unteren Bauch legen (Mittelfinger berühren sich leicht). In den Bauch atmen, Hände heben sich, beim Ausatmen wieder senken lassen. Ein paar Mal wiederholen. Nicht übertreiben. Dann die Hände auf die unteren Rippen legen oder den Zeigefinger und Daumen um die Seiten der Rippen legen und einatmen, während du spürst, wie sich die Rippen zur Seite bewegen. Ausatmen, während sich die Rippen wieder entspannen. Wiederhole dies ein paar Mal. Hände dann auf das Brustbein legen, Fingerspitzen berühren die Schlüsselbeine. In den oberen Brustraum atmen, spüren wie sich das Brustbein hebt und ggf. die Rückseite mitbewegt. Ein paar Mal wiederholen. Die Hände entspannen. Dann alle drei Atembewegungen verbinden: Einatmen in den unteren Bauch – Rippen – Brustraum, Ausatmen in umgekehrter Reihenfolge. Ein paar Mal wiederholen. Dieser Vorgang erinnert mich an das Auffüllen eines Glases mit Flüssigkeit: Zuerst füllt sich der untere Teil, dann der mittlere Teil und schließlich der obere. Wenn die Flüssigkeit das Glas verlässt, ist zuerst der obere Teil leer, dann die Mitte und dann der untere Teil.

 

Englisches Orignal: Julie Kirkpatrick
Deutsche Übersetzung: Judith Quijano